Monika Egger, Jacqueline Sonego Mettner (Hg.)

einfach

unverschämt

zuversichtlich

FAMA – 30 Jahre feministische Theologie

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz sowie der Reformationsstiftung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich, unter Verwendung der Fotografie einer Skulptur von Margot Güttinger

ISBN 978-3-290-17752-2 (Buch)
ISBN 978-3-290-17794-2 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2014 Theologischer Verlag Zürich
www.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

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Die mit Tränen säen – mit Jubel
werden sie ernten.
Da gehen sie, sie gehen und weinen
und tragen den Beutel zum Säen.
Da kommen sie, sie kommen mit Jubel
und tragen ihre Garben.

Psalm 126,5.6

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Inhaltsverzeichnis

Jacqueline Sonego Mettner und Moni Egger

einfach unverschämt zuversichtlich

Silvia Strahm Bernet und Doris Strahm

30 Jahre FAMA

Leidenschaft für das Leben

Erkundungen zu Spiritualität

Moni Egger

Fragiler Ball deiner Liebe. Tango mit Gott

Antoinette Brem

«Sei du dein und ich werde dein sein». Zur Spiritualität des Coming-out

Vreni Schneider Biber

Spiritualitätsboom ohne Erotik

Isabelle My Hanh Derungs

Gott ist immer Gott

Esen Leyla Esendal

Nahrung aus der «Quelle des Lebens». Erinnerung an eine Kindheit in der Türkei

Die leere Kammer oder das, was unser Leben offen hält

Zur Frage nach Gott

Dorothee Dietrich

Eigentlich

Li Hangartner

Gott

Doris Strahm

… aber ich glaube daran

Magdalene L. Frettlöh

Gott Gewicht geben

Gisela Matthiae

Beziehungsweise … Einige kritische Anmerkungen zu relationalen Gottesvorstellungen

Jacqueline Sonego Mettner

SternMenschen |8|

Der wundeste Punkt im Christentum

Kreuz und Christologie

Silvia Strahm Berner

Weihnachtsgedanken angesichts meines Kindes

Doris Strahm

Der springende Punkt: Die Göttlichkeit Jesu

Ursula Vock

Die Gekreuzigte

Regula Strobel

Der Beihilfe beschuldigt. Kreuzestheologie auf der Anklagebank

Tania Oldenhage

Die Wehenschmerzen Jesu

Ulrike Büchs

Der Ausgezogene

Funken schlagen aus dem alten Felsen

Die Heilige Schrift

Karin Klemm

Öl lässt sich nicht teilen. Das Gleichnis von den zehn jungen Frauen (Mt 25,1–12)

Ruth Wirz

Gegen den Strom zur Quelle hin

Christine Stark

«Ich will dich vor allen entblössen!». Eine abstossende Bibelstelle

Marianne Wallach-Faller

Mit der Tora ringen, bis sie Antwort gibt. Eine jüdisch-feministische Hermeneutik der Heiligen Schriften

Moni Egger

Schlafende Väter beissen nicht. Noah, Lot und ihre Kinder (Gen 9,18–29 und Gen 19,30–38)

Regula Strobel

Brot, nicht Steine. Elisabeth Schüssler Fiorenzas Hermeneutik in der Pfarreiarbeit

Brigit Keller

Frau Lot, «schnür deinen Schuh»

fragile

Brüche und Hoffnungen |9|

Dorothee Sölle

Gottes Schmerz teilen

Mirjam Neidhart

Meggiy geht zurück in den Kongo

Jacqueline Sonego Mettner

Ganz brüchig. Ein behutsames Lob der Brüchigkeit

Helga Kuhlmann

Abschied von der Perfektion. Zur gegenwärtigen Bedeutung von Rechtfertigungstheologie

Li Hangartner

Gotteskindschaft. Liebe macht bedürftig, aber nicht unerwachsen

Jacqueline Sonego Mettner

Das ganze Leben – vor und nach dem Tod

«Damit es anders anfängt zwischen uns allen» (Hilde Domin)

Feministische Landung in Alltag und Politik

Barbara Seiler

C. B. – eine Heldin entsteht

Béatrice Bowald

Nachdenkliche Marktgängerin. Überlegungen zum bedingungslosen Grundeinkommen

Christa Schnabel

Gerecht sorgen. Zur Fürsorge als Schlüsselbegriff feministischer Ethik

Anna Gogl

Das Intime in der Pflege

Tania Oldenhage

Feministisches zum Ultraschall

Stoff

Verwobene Identität

Emel Zeynelabidin

Der Aufstand der Locken. Gedanken zur Enthüllung

Kerstin Rödiger

Im Verborgenen werden wir bekleidet. Spinntabu und Arbeitsfleiss

Monika Hungerbühler

Meine Liebe zum Stoff. Gedankenfäden zu Textilien und Text

Aufeinander zugehen, um zu verstehen

Schwestern über Kontinente |10|

Zeedah Meierhofer-Mangeli

Ich möchte etwas anderes erzählen. Gedanken zu Rassismus, Kolumbus und mir

Reinhild Traitler

Schwestern über Kontinente. Tagebuchnotizen zur EATWOT Frauenkonferenz in Costa Rica

Rebekka Grogg

«Die Anderen» anders sehen. Das Europäische Projekt für Interreligiöses Lernen (EPIL)

Immer noch und immer wieder anders

Feminismus in Theologie und Gesellschaft

Antje Schrupp

Backlash? Feminismus in Zeiten der Emanzipation

Doris Strahm

«Damit es anders wird zwischen uns». Frauen im interreligiösen Dialog

Ina Prätorius

Wie kriege ich gnädige Mitstreiterinnen?

Katherina von Kellenbach

Volle Ernte oder leerer Krug? Feministische Theologie im Wandel

Christina Thürmer-Rohr

Albtraum Utopie

Silvia Strahm Bernet

Auf Stelzen gehen

Margrit Marberger

Feministische Theologie auf dem Land

Luzia Sutter Rehmann

Landnahme. Reflexionen einer Übersetzerin der «Bibel in gerechter Sprache»

Autorinnen

Fussnoten

Seitenverzeichnis

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einfach unverschämt zuversichtlich

Deshalb sind wir davon überzeugt, dass die feministische Theologie, auch wenn sie vielfältig und uneinheitlich ist, in ihrem Suchen und Fragen eine Glaubwürdigkeit aufweist, die kritische und denkfreudige Menschen in traditioneller Theologie und Kirchlichkeit nicht mehr finden.

Die «Hoch-Zeit» der frauenkirchlichen Bewegung ist vorbei. Als FAMA-Redaktorinnen liegt uns das Klagen darüber fern. Wir sehen das neue Interesse an Religion und meinen, dass all diejenigen, die sich weder von fundamentalistischen noch von esoterischen Angeboten beeindrucken lassen, sich mit Gewinn mit der feministischen Theologie auseinandersetzen. Dieses Buch lädt dazu ein.

Es ist nur eine kleine Auswahl aus möglichen, immer noch anregenden und wichtigen Beiträgen in diesem Buch versammelt. Die Auswahl kam in einem zweistufigen Verfahren zustande. Zunächst lasen je zwei Kolleginnen jeweils fünf FAMA-Jahrgänge und markierten die Beiträge, welche sie gerne noch einmal veröffentlicht gesehen hätten. In einem zweiten Durchgang dann war es an uns Herausgeberinnen, die definitive Auswahl für diesen Band zu treffen. Wir bedanken uns an dieser Stelle bei unseren aktuellen FAMA-Kolleginnen in der Redaktion, Jeannette Behringer, |12| Béatrice Bowald, Esther Kobel, Tania Oldenhage, Simone Rudiger, Christine Stark und Ursula Vock für diese Mitarbeit im Besonderen und für die wunderbare Zusammenarbeit im Allgemeinen in der FAMA-Redaktion. Unser Dank gilt auch Kerstin Rödiger, Sabine Scheuter, Susanne Wick und Katja Wißmiller, die als «zugewandte Orte» bei der Auswahl beteiligt waren.

Leitend für die Auswahl war weniger die Bedeutung der Texte als historische Zeugnisse der Frauenkirche oder kirchlichen Frauenbewegung. Die FAMA-Geschichte ist reich an Stellungnahmen zu diesbezüglichen frauendiskriminierenden Entscheiden, vor allem seitens der römisch-katholischen Kirche. Entscheidend war für uns die Relevanz für heutiges Fragen und Weiterdenken. Weder die tausendste Begründung für die Biblizität des Priesteramtes für Frauen noch eine Auseinandersetzung mit den Ängsten vor einer sogenannten «Feminisierung» der Kirche haben uns für das Buch interessiert. Wir möchten zeigen, was feministisch-theologisches Denken und Fragen heute weit über die Ränder der Kirchen hinaus zu sagen hat.

Ein grosser Dank gilt unseren Autorinnen, die einer nochmaligen Veröffentlichung ihrer Beiträge, teilweise gekürzt, zugestimmt haben. Ihnen verdanken wir eine wunderbare Mischung aus sehr persönlichen und grundsätzlichen systematisch-theologischen Beiträgen, beispielhafte Miniaturen biblischer Textarbeit, Nachdenkliches zu gesellschaftlichen Fragen, Bedeutsames aus jüdischer und islamischer Perspektive, nicht-theologische Beiträge und vieles mehr.

Es hätte leicht zwei Bände geben können. Neugierige verweisen wir auf unsere Homepage www.fama.ch. Die meisten FAMAs können als Einzelhefte noch bestellt werden.

Danken möchten wir an dieser Stelle den Gründerinnen der FAMA: Monika Berger, Monika Hungerbühler, Cornelia Jacomet, Carmen Jud, Silvia Strahm Bernet, Doris Strahm und Regula Strobel. An ihren Tischen und in ihren Köpfen entstanden – einfach unverschämt zuversichtlich – die Idee und das Projekt FAMA, mitsamt dem lateinischen Namen vom Gerücht, das aufhorchen und fragen lässt: Gibt es das, Gerechtigkeit für alle Menschen, Frauen und Männer, Frieden, der mehr ist als Abwesenheit von Gewalt, Liebe, die gross macht? Und was kann ich, was können wir dafür tun?

Wir danken Marianne Stauffacher vom TVZ, die dieses Buch leider nicht bis zu seiner Veröffentlichung begleiten konnte, und Lisa Briner, ihrer Nachfolgerin, die uns mit Rat und Tat, vor allem auch mit einem hervorragenden Lektorat zur Seite stand. Glücklich sind wir über die Plastik der Künstlerin Margot Güttinger, die sie uns für die Gestaltung des Buches zur Verfügung gestellt hat und die treffender nicht sein könnte für unseren Titel «einfach unverschämt zuversichtlich».

Jacqueline Sonego Mettner und Moni Egger
Meilen und Thalwil, 19. Januar 2014

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30 Jahre FAMA

Stellen Sie sich vor: Eine autonome feministisch-theologische Zeitschrift, allein durch Abonnemente und Spenden finanziert, weitgehend ehrenamtlich produziert, ökumenisch und interreligiös ausgerichtet, die aktuelle Themen aufgreift mit ungewohnten Blickwinkeln. Sie existiert noch immer, fast 30 Jahre nach ihrer Gründung, und hat sogar einen Generationenwechsel geschafft. Eigentlich nicht möglich, oder? Und doch ist es so: Es gibt sie noch, und sie ist höchst lebendig! Das muss einen unverschämt zuversichtlich stimmen.

Mehr noch, die FAMA hat es nicht einfach geschafft, die Jahrzehnte zu überdauern, nein: Sie hat ihre Frische behalten, ihren Elan und ihre Neugier und stellt weiterhin – nun in den Händen einer jüngeren Generation – unbequeme, anregende und uns alle umtreibende Fragen und sucht nach vorläufigen Antworten.

Die FAMA – sie hat etwas Famoses und sie ist ein etwas verrücktes Projekt, so verrückt wie vor dreissig Jahren die Idee dreier katholischer feministischer Theologinnen, eine Gewerkschaft zu gründen. Ihr Ziel: die Interessen und Forderungen feministischer Frauen gegenüber der patriarchalen römisch-katholischen Kirche zu vertreten und durchzusetzen. Was von dieser Idee übrig blieb, wir sagen es heute etwas verschämt, war das «Bulletin der theologischen Frauen-Web- und Werkstatt», das von 1983–1985 viermal jährlich in einer Auflage von 300 Exemplaren erschien.

Gut, der Name ist (uns) vielleicht heute etwas peinlich. Nicht jedoch das, was wir taten. Wir haben gewoben, Netze unter Frauen, tragfähige Gedanken, um nicht ganz den Boden unter den Füssen zu verlieren, und noch viel mehr haben wir gesponnen: «grössenwahnsinnige» Ideen und weltverändernde Theorien entwickelt, Traditionen in Frage gestellt, Utopien entworfen, gemäss der Maxime von Christa Wolf, «einmal im Leben, zur rechten Zeit, sollte man an Unmögliches geglaubt haben». Scheinbar Unmögliches möglich gemacht haben wir, indem wir ohne finanzielle Sicherheit den Schritt vom hektografierten Web- und Werkstatt-Blättchen zu einer richtigen gedruckten Zeitschrift wagten. Der dafür gewählte Name FAMA – lateinisch «Gerücht, öffentliche Meinung, guter oder schlechter Ruf, Ruhm» – war Programm: Wir wollten uns einmischen in die öffentliche Diskussion, Themen aufgreifen, die in der kirchlich-theologischen Männerpresse keinen Platz hatten, feministische Positionen formulieren und verbreite(r)n.

Acht junge Frauen um die Dreissig haben das feministisch-theologische Zeitungsprojekt 1985 mit viel Begeisterung gestartet. Redaktionssitzungen bei den einzelnen zu Hause, Befindlichkeitsrunden mit persönlichem Auf und Ab, Wochenenden zur Themenfindung und Teambildung, spannende und auch kontroverse inhaltliche Debatten, aufwendige Redaktionsarbeit und Korrekturlesen – all dies war für Jahrzehnte ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. In diesen Jahren wurden Kinder geboren |14| und grossgezogen, Ehen geschlossen, andere geschieden, unterschiedliche berufliche Laufbahnen eingeschlagen, Weiterbildungen gemacht und Dissertationen geschrieben. Bei allen Veränderungen beruflicher und persönlicher Art blieb die FAMA eine Konstante in unseren Leben. FAMA – das hiess nicht nur viel ehrenamtliche Arbeit, sondern bedeutete vor allem: intellektuelles Vergnügen und lustvolles Debattieren. Und es hiess auch, in der Zeit zwischen den Sitzungen all das zu sammeln, was uns aufmerksam werden liess und aus unserer feministischen Optik analysiert werden wollte. Das schärfte unsere Aufmerksamkeit auch während den Sitzungspausen und liess ungewohnte und überraschende Zugänge zu Themen entstehen. Nie hatten wir zu wenig Denk-Stoff, und nie ist uns bei aller ernsthaften Analyse bedrückender Realitäten das Lachen vergangen. So war das vernünftige Argument zwar immer zentraler Inhalt der FAMA, aber wenn immer möglich gewürzt mit Witz und Ironie.

Bald war die FAMA mehr als ein Gerücht und hatte sich einen guten Ruf und einen gewissen Ruhm erarbeitet, scheidende Redaktorinnen konnten problemlos ersetzt werden, reformierte Theologinnen kamen hinzu, die Administration wurde ausgelagert und bezahlt, das Layout nicht mehr selbst von Hand geklebt, sondern von einer professionellen Layouterin gestaltet, und den Autorinnen konnte ein kleines Honorar ausbezahlt werden.

Während die Zeitschrift immer eher an einem Mangel an Geld litt, hatten wir stets Ideen im Überschuss. Für die Planung der vier Themenhefte im Jahr kamen wir mit 80 Ideen an. An Phantasie fehlte es den Redaktorinnen damals wie heute nicht. Die unterschiedlichen beruflichen Umfelder und die verschiedenen Temperamente und Charaktere der Redaktorinnen kreierten eine Bandbreite vielfältigster Themen: Schwesternstreit (1985), Keuschheit (1985), Antijudaismus (1991), Conquista (1992), Fatimas Töchter (1994), Lieber barbusig als barfüssig (1996), Hurra, wir leben noch (2000), Loch (2001), Männer (2007), Verwöhnt (2011), in_out (2013), um nur ein paar der bald 120 Themenhefte zu nennen.

Die FAMA hat originelle und überraschende Themen aufgegriffen, sich aber immer auch mit feministisch-theologischen Themen im engeren Sinne befasst wie etwa Pfingsten (1987), Kreuz (1988), Heiliges Feuer (1995), Inkarnation im Frauenleib (1997), Religion – Gewalt – Politik (2002), Kanon (2003), Trinität (2012) und so weiter.

Etwas von dieser Fülle der vergangenen dreissig Jahre wird in diesem Buch in neun Kapiteln vorgestellt. Sie geben Einblick in Stationen, Entwicklungen und Facetten feministisch-theologischer Denkarbeit und konkreter Handlungsfelder. Wir hoffen, dass beim Lesen der ausgewählten Beiträge aus 30 Jahren FAMA mehr deutlich wird, als die Zeit, die vergangen ist – aha, das hat die Frauen damals beschäftigt: wie interessant, kurios, eigenartig … na ja, da sind wir heute doch an einem ganz anderen Ort. Sicher, es hat sich vieles verändert, aber so vieles denn leider auch wieder nicht. Feministische Theologie fristet noch immer ein Mauerblümchendasein an den theologischen |15| Lehranstalten, von feministischer Aufbruchsstimmung und Frauenpower ist nicht mehr viel zu spüren, und manches, wofür wir gekämpft haben, ist schon wieder verschwunden wie etwa kirchliche Frauenstellen, die allenthalben abgeschafft werden.

So ist zu hoffen und zu wünschen, dass die FAMA weiterhin ein gutes Gerücht bleibt, dass sie zu denken und zu reden und weiterzuerzählen gibt. Wie die geflügelte Göttin, als die sie in der darstellenden Kunst erscheint, möge sie sich ihre Flügel nicht durch den scharfen Gegenwind und durch das nur schwer zu überwindende gesellschaftlich-kirchliche Desinteresse an feministisch-theologischen Fragen stutzen lassen. Aber die FAMA ist ja noch jung. Erst 30 Jahre alt. Und das stimmt uns unverschämt zuversichtlich!

Silvia Strahm Bernet und Doris Strahm

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Leidenschaft für das Leben

Erkundungen zu Spiritualität

«Mich macht die Musik und die
Atmosphäre an bestimmten Orten,
wo Spiritualität vermarktet und
feilgeboten wird, kribblig.»

Barbara Lehner
in FAMA 3/1999: «Erkundungen zu Spiritualität» |17|

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Fragiler Ball deiner Liebe

Tango mit Gott

Moni Egger

Schon wieder bist du mir abhanden gekommen. Klammheimlich. Erst jetzt bin ich aufgeschreckt und suche dich. Dabei erzähle oder schreibe ich fast täglich von dir. Aber ach, ich kann dich nicht halten. Und ich verliere mich ohne dich. Das hab ich mir anders vorgestellt – wenn doch jetzt Tag für Tag du mein Thema bist, hab ich gehofft, dass unsere Beziehung stabiler würde, weniger flüchtig. Aber es geht wohl nicht nebenbei, en passant. Ich muss mich von innen her und ganz bewusst um dich in mir kümmern, damit ich uns beide nicht verliere. Muss meine Füsse fühlen, wie sie den Boden tasten. Muss mein Zentrum fühlen, in meiner eigenen Achse bleiben, selbst stehen, damit ich mich führen lassen kann von dir. Ich halte, so gut es geht, das Gleichgewicht, Stabilität trotz hohen Absätzen. Du! Tanz mit mir. Tanz wieder! Ich bin bereit. Meine Schuhe glitzern, mein Herz – bitte, wart nicht so lang, komm auf mich zu! Schau mich an, nimm mich in den Arm, tanz mit mir! Und ich will auf dich lauschen. Will und werde fühlen, wo du mich hinführst. Werde meine Schritte setzen, selbst und stark und stabil. Werde nicht wanken. Werde in meiner Achse bleiben oder, wenn’s die Musik erlaubt, mein Zentrum aufgeben und mich auf unsere gemeinsame Mitte verlassen. Wenn wir uns finden, wird der Tanz schwerelos. Voll Energie, lebendig bis ins Innerste, lebendig bis in die äusserste Faser. Unser Tanz, ein «lustiger Ball deiner Liebe» (Madeleine Delbrel):

Will einer ein guter Tänzer sein, mit dir oder sonstwie, darf er nicht wissen, wohin es führt. Nur folgen muss man, aufgelegt sein und schwerelos, und vor allem sich nicht versteifen. Man soll dir keine Erklärungen abverlangen über die Schritte, die du zu tun beliebst, sondern sein wie eine Verlängerung deiner, behende und wendig, und durch dich hindurch den Takt des Orchesters aufnehmen. Man darf nicht um jeden Preis vorankommen wollen, sondern soll zufrieden sein, sich zu drehen, seitwärts zu steppen, anzuhalten, wenn nötig, und zu gleiten, anstatt zu schreiten. Und all das wären nur idiotische Schritte, machte nicht die Musik daraus eine Harmonie. Wir hingegen vergessen die Musik deines Geistes, und machen aus unserem Leben eine Turnübung; wir vergessen, dass es in deinen Armen getanzt wird, dass dein |20| Heiliger Wille von unvorstellbarer Phantasie ist, dass es monoton und langweilig nur für ältliche Seelen zugeht, die als Mauerblümchen sitzen am Rand des lustigen Balls deiner Liebe.1

Tango ist Seiltanz zwischen Folgen und Selbstbestimmung. Tango verlangt, genau wie du, ganze Hingabe bei vollkommenem Bei-mir-Sein. Leichtigkeit und Bodenhaftung. Ich lasse mich führen. Und ich tanze selbst. Grundbedingung 1: der Boden. Ich muss mich auf den Boden einlassen, mich seiner Beschaffenheit anpassen. Oder vielleicht die Schuhe wechseln. Oder aufhören zu tanzen. Grundbedingung 2: die Musik. Ganz ähnlich, aber emotionaler und darum noch schwieriger damit umzugehen. Manchmal genügt es, einen Tanz auszulassen. Manchmal aber gibt es lange Phasen, da erreicht die Musik mich nicht und ich kann mich zu keinem eigenen Schritt aufraffen. Grundbedingung 3: das Gegenüber. Ich bin zunächst Geführte, Empfangende, aber Führen und Folgen verschwimmen. Meine allerwichtigste Aufgabe ist, in meiner eigenen Achse zu bleiben, fest auf meinen Füssen zu stehen. Dabei die Impulse von Musik und Gegenüber als Bewegungen aufnehmen, leicht werden und standfest zugleich, mich in die Fliehkraft angstlos hineingeben, Nähe nicht scheuen. Grundbedingung 4: die anderen. Für den perfekten Tanz gehören die anderen mit dazu. Alle Paare auf der Fläche tanzen nicht nur den eigenen, sondern auch den gemeinsamen Tanz.

Manchmal stimmt alles zusammen und die Zeit setzt aus. Aber wie oft … seufz. Verletzlich bin ich. Mir ausgesetzt. Den Blicken ausgesetzt. Den Energien. Den Männern, die die Nähe ausnutzen, deren Arme wie Schraubstöcke sind. Verwundungsgefahr. Ich bin offen, ganz da und so leicht zu verletzen. Eine härtere Schale aber will ich nicht. Das macht Mauerblümchen. Ich aber will nicht zuschauen, ich will tanzen. Komm! Rühre mich an, fordere mich auf, nimm meine Einladung an!

Nun habe ich mich wieder ein Stücklein an dich herangeschrieben. Du, du, du. Mein Boden, meine Musik, meine Führung. Du, die du mir Raum lässt, die du mich auf die Füsse stellst. Tanz mit mir.

Erschienen in FAMA 4/2012: «fragil»

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«Sei du dein und ich werde dein sein»

Zur Spiritualität des Coming-out

Antoinette Brem

Mein öffentliches Coming-out begann mit einer intensiven und tiefen Liebe zu der Frau, mit der ich auch heute noch, beinahe zehn Jahre später zusammen bin. Spiritualität im Coming-out habe ich seither zur Fülle erfahren: Nie zuvor schien mir das Göttliche so durch meinen Körper und alle Poren zu fahren wie in der Anfangszeit unserer Beziehung und seither immer wieder, nie zuvor öffnete mir eine alles durchwehende Geistkraft mehr die Augen für mein eigenes Selbst, und nie zuvor hatte eine klärende Hand mir den Schleier zwischen meinem inneren Empfinden und dem Aussen der Welt weggefegt wie durch das Entdecken meiner Liebesfähigkeit – als Frau für eine Frau. Und damit endete ein jahrelang tief empfundener Schmerz, weil ich bisher geglaubt hatte, der Liebe nicht fähig zu sein.

In dieselbe Zeit fiel mein Studiumsabschluss. Ein Zitat zum Zusammenspiel von Selbst- und Gotteserkenntnis in einer Vorlesung hatte mich derart berührt, dass ich beschloss, darüber meine Lizentiatsarbeit zu schreiben. Der Mystiker Nikolaus von Kues versuchte im 15. Jahrhundert Mönchen aufzuzeigen, wie sie zur Erkenntnis Gottes gelangen können. Durch alle damals bekannten spirituellen Übungswege hindurch führt Cusanus die Mönche an den einen Punkt, wo er Gott zum Menschen sagen lässt: «Sei du dein und ich werde dein sein!»2 Das heisst so viel wie: An dir vorbei kannst du mich nicht finden. Oder auch: Nimm dich und das, was in dir leben will, radikal ernst – sonst geht dein Leben in die Leere.

Ungefähr zeitgleich mit Cusanus entdeckte ich eine moderne Mystagogin: die schwarze lesbische Dichterin Audre Lorde. Sie nimmt meiner Ansicht nach in ihrer Sprache das Thema des «Sei du dein» auf, weitet es aber vom individuellen Sich-Finden aus auf die Dimension des Gemeinschaftlichen und des Kampfes für soziale Gerechtigkeit. Audre Lorde spricht von den «erotischen Wegweisern in uns selbst», die uns aus der Fremdbestimmung dahin führen sollen, für uns und für andere, «in Berührung mit der Macht der Erotik in uns selbst», Verantwortung zu übernehmen: «Unsere Handlungen gegen die Unterdrückung werden selbst-bestimmt, von innen her motiviert und mit Macht erfüllt.»3 Die Macht der Erotik vereinigt in sich Spiri­tualität und Sexualität – beide entspringen ihr aus derselben Quelle. |22|

Lesbischsein als Gabe und Aufgabe

Das menschenfreundliche Gottesverständnis des «Sei du dein» deckt sich in einem wichtigen Aspekt mit dem, was ich zur Spiritualität des Coming-out zu sagen habe. Mein Lesbischsein zu leben – ich weiss, dass dies zwar nicht der Beginn, aber eine konsequente Weiterführung meiner Geschichte mit dem Göttlichen, dem innersten Wesenskern ist. Es ist eine Gabe und bedeutet für mich, dass ich mit meinem Leben und ganz besonders in der Beziehung zu meiner Lebenspartnerin meine ureigene Art sehe, göttliche Liebe in der Welt sichtbar zu machen.

Mein Coming-out hat mir ein neues, inneres Bewusstsein gegeben für meine Kraftquellen, aber auch dafür, wie Diskriminierung funktioniert, äussere und verinnerlichte. Von Audre Lorde habe ich gelernt, dass damit auch eine Aufgabe verbunden ist. Sehr klar wurde mir dies an einem Treffen von Lesben in Deutschland 1993. Tags zuvor waren fünf türkische Frauen bei einem rassistisch motivierten Anschlag getötet worden. Wir gingen auf die Strasse. Nicht nur für die Opfer des Brandanschlags, sondern auch für uns. In diesem Akt des Widerstandes trafen das Mystische des «Sei du dein» und das Politische der «Macht der Erotik» zusammen.

Das eigene Leben zur Sprache bringen

Ich wollte von einigen Frauen wissen, inwiefern sie einen Zusammenhang zwischen ihrem Coming-out und ihrer Spiritualität sehen. Dabei habe ich bewusst darauf verzichtet, «Coming-out» näher zu definieren oder mein Verständnis von Spiritualität zu erörtern. Sie selber sollten die beiden Begriffe füllen und mit ihrem eigenen Leben verbinden. Von den 18 angeschriebenen Frauen haben sich 16 entweder schriftlich oder mündlich zu meiner Frage geäussert. Vier Frauen konnten spontan keinen Zusammenhang nennen.

Die übrigen Frauen äusserten sich zu drei Themenkreisen: Heimkehr zu mir selbst, Bruch-Erfahrungen, tragendere Beziehungen.

Heimkehr zu mir selbst

Wohl nicht zufällig umschreiben die meisten Frauen ihre Coming-out-Erfahrung mit Begriffen wie «Heimkehr», «Identitäts- und Selbstfindung» und setzen dies in Zusammenhang mit Spiritualität: «Spiritualität heisst für mich, im freundlichen Angesicht Gottes immer mehr die zu werden, die ich im tiefsten meiner selbst bin. Und wenn mein Lesbischsein einen Teil meiner Identität ausmacht, dann ist das Coming-out ein Schritt auf dem Weg zu einem ‹Leben in Fülle› und gehört ganz wesentlich zu meiner Spiritualität.» |23|

«Für mich hat Spiritualität mit Sinn-Suche im Allgemeinen und Coming-out mit Sinn-Suche im Besonderen zu tun. Durch mein Coming-out habe ich das Eingebundensein ins Lebendige ganz stark erfahren und glaube dadurch meine eigene Identität gefunden zu haben (endlich daheim!).»

Die Suche nach der eigenen Identität ist für einige Frauen in einer noch immer weitgehend homophoben Gesellschaft sehr schmerzhaft. Darum ist es besonders wichtig «zu spüren, dass dieser ‹gute Geist› mich auch beim Prozess, eine positive Identität als lesbische Frau zu entwickeln, unterstützt.»

Bruch-Erfahrungen

Drei Bereiche kommen hier zur Sprache: Eine Frau bezieht sich auf ihr Coming-out, das für sie keine Heimkehr zu sich selbst in beglückendem Sinne war, denn die Tragödie ihrer Kindheit scheint sich in vermeintlich sicheren Frauenräumen zu wiederholen: «Meine Mutter war nicht die einzige Frau, die mein Coming-out als Einladung zur Selbstbedienung auffasste.» Die Auseinandersetzung mit Gewalt, ganz besonders mit Frauengewalt, ist für sie «ein zentraler Punkt meiner Religiosität – oder kurz die Frage, wie ich in dieser Welt leben kann. Bei allem was mir zu sehr nach Heile-Welt und Kuscheldecke-Spiritualität aussieht, kriege ich das Gruseln.» Diese Frau entlarvt mit ihrem Coming-out vielschichtig gleich mehrere Mythen: jene von der heilen Familie genauso wie jene von heiler Lesbenwelt. Sie wehrt sich gegen eine «Wir»-Vereinnahmung und fordert uns stattdessen heraus, immer noch genauer hinzusehen, wo Frauen ausgegrenzt werden.

Einige haben die traditionellen Bilder von Gott und vom Religiösen hinter sich gelassen. Sie suchen eine neue Sprache, stimmigere Rituale, die ihrem Frausein und den Brüchen, aber auch den Ganzheitserfahrungen in ihrem Leben und in der Welt gerechter zu werden vermögen. Für sie ist der Weg des Coming-out verbunden mit einem Abschied vom Männergott: «Mein Coming-out hat meine patriarchal geprägte Spiritualität absolut in Frage gestellt. Weibliche Spiritualität ist für mich lebendiger, weil Leben, Lust und Leidenschaft sein dürfen.»

Coming-out hat eine prophetische Dimension. Diese klagt in unserer Gesellschaft und Kirche die Sünde der Homophobie und des Heterosexismus an und fordert Lesben, Schwule und Bisexuelle dazu auf, ihre Liebesfähigkeit nicht zu verleugnen. Für Frauen, die sich einer christlichen Gemeinschaft zugehörig fühlen, ist es schwierig, zwischen ihrem Christin- und Lesbesein zu balancieren; beinahe unlösbar scheint der Konflikt bei Frauen und Männern in (katholischer) kirchlicher Anstellung zu sein: «Ich muss mir gut überlegen, wo und wem ich mich öffentlich zeigen kann, ohne mich selber zu gefährden, zum Beispiel meine Stelle in der Kirche zu verlieren. In der Kirche, wo Menschenwürde und Liebe im Mittelpunkt stehen sollten, wird meine Würde verletzt, weil ich mich nicht so zeigen darf, wie ich bin. So bin ich gezwungen, meine Spiritualität abzuspalten.» In diesem Beitrag wird sehr deutlich, wie die Kirche sich selber ihrer Seele beraubt, indem sie Menschen daran hindert, aus der Fülle ihrer Existenz zu schöpfen. |24|

Ein weiterer Beitrag beschreibt die Folgen dessen, was die kirchliche Lehre zur gleichgeschlechtlichen Liebe Einzelnen antut: «Das Coming-out war für mich zu Beginn eine der grössten spirituellen Erprobungen. Ich sah mich konfrontiert mit der gängigen Meinung, Homosexualität und Glaube bzw. Spiritualität seien nicht vereinbar. Ein Leben ohne Ausrichtung auf das Göttliche konnte ich mir jedoch nicht vorstellen, es ist mein Lebenselixier. Dann eher mein Leben ‹freiwillig› beenden.» Diese Frau hatte selber schon so viel eigenen Boden, dass sie ihrer inneren Führung mehr vertraute als «den selbsternannten Sprachrohren Gottes: Da war es für mich sehr wichtig, dass die spirituelle Führung in meinem Leben weiterging.»

Tragendere Beziehungen

«Wenn eine Frau die Wahrheit sagt, schafft sie damit die Möglichkeit für mehr Wahrheit in ihrer Umgebung.»4 Adrienne Rich spricht eine Erfahrung aus, die vielen von uns vertraut ist: Indem wir uns selber zeigen, ermutigen wir andere, ehrlicher zu sich und zu anderen zu sein – und dies beschränkt sich nicht auf Lesben und Schwule allein. «In den Momenten, wo ich von meiner Liebe erzählte, spürte ich sehr viel Nähe und ein gutes Einverständnis mit den Menschen – ein tief spirituelles Gefühl.» Beziehungen zu FreundInnen und Bekannten werden nicht nur ehrlicher, vielfach erleben die betreffenden Frauen auch, dass sie an Tiefe gewinnen und vielem standhalten können: «Ich staune oft über die Tiefe, die sich da ergeben hat, wenn Beziehungen mit dem Thema gewachsen sind.» Diese gemeinschaftliche Dimension des Coming-out ist zentral. Gemeinsam bringen wir uns immer mehr an den Ort, wo jede sich selber sein und von dort aus ihre Möglichkeiten entfalten kann.

Ein Heilungs- und Befreiungsweg

Eines scheint bei aller Unterschiedlichkeit der Antworten allen gemein zu sein: Im Coming-out haben die Frauen näher zu ihren je eigenen konkreten Lebensthemen gefunden. Meiner Meinung nach ist es dies, was Cusanus mit «Sei du dein» bezeichnet hat. Sie sind sich, anderen und dem, was sie unbedingt angeht (Tillich) dadurch näher gekommen. Nicht immer sind damit nur Glücksgefühle verbunden, für alle aber scheint dies ein Heilungs- und Befreiungsweg zu sein, der sie stärker in Berührung bringt mit ihrer innersten Mitte, der sie in die Gemeinschaft mit anderen, die Ähnliches erfahren haben, ruft, der sie in Berührung mit der «Macht der Erotik», wie Audre Lorde sie versteht, bringt, die es nicht zulässt, Spiritualität von Sexualität abzuspalten. Sehr treffend hat dies eine der Frauen mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: «Mein Coming-out hat mich – und andere – ermutigt, noch mehr mit dem konkreten Leben in Kontakt zu kommen. Es hat mich letztlich noch mehr verwurzelt: in meinem Leben, meinem Körper, meiner Sehnsucht nach Leben in |25| Fülle in diesem konkreten, erdverbundenen Leben, und in der Liebe, der konkreten und der allumfassenden.»

Erschienen in FAMA 1999/3: «Erkundungen zu Spiritualität»

Spiritualitätsboom ohne Erotik

Vreni Schneider Biber

Eines Tages kommt ein Kollege in die Sitzung und erklärt: «Ich ziehe mich jetzt zurück aus der Südafrika-Arbeit. Ich muss mehr zu mir selber kommen.» Etwas später höre ich, er besuche nun Zen-Meditationskurse. Ich werde traurig und wütend, sein Rückzug trifft mich.

Nicht das Lieblose

Ich feiere gerne mit Frauen Gottesdienste, aber je länger je mehr langweilen mich die immer gleichen Kerzen, die bunten Tücher, das ausgegossene Wasser, die schweren Steine. Wo bleibt die Phantasie, die Vielfalt in der Sprache der Gesten? Muss es denn immer ein Sonnenblumenkern sein, den wir mitnehmen und pflanzen sollen? Es gibt doch auch Schneeglöcklein und Tulpen und ihre Zwiebeln und warum nicht auch mal eine ganz gewöhnlich Bohne?

Das Gewöhnliche, das Alltägliche, das Profane ist für mich der Ort und die Sprache des Spirituellen. Dabei meine ich nicht das Banale, sondern das Einfache; nicht das Kitschige, sondern das Schöne; nicht das Zufällige, sondern das Gesuchte; nicht das Lieblose, sondern das Gepflegte.

Ohne Menschen ist Spiritualität in all ihren Formen für mich geist-los und lieb-los. Ich sah einmal eine Fotografie von einer wunderschönen Frau aus weissem Marmor. Das Faszinierende an diesem Bild, das, was es für mich zu einem Ort von Spiritualität machte, waren die Menschen, die diese Statue betrachteten: völlig versunken in das Schauen der Schönheit, in das Begehren nach Vollkommenheit. Die Fotografin bzw. der Fotograf hat Anbetung dargestellt, völlig profan.

Nüchtern, alltäglich, beziehungsreich

Für eine Veranstaltung wurde ich angefragt, kurz darzustellen, was ich unter Spiritualität verstehe und lebe; da hat mich eine Kollegin angesprochen: «Du hast doch keine Ahnung von Spiritualität.» Ich wusste, was sie meinte. Sie kannte mein Misstrauen |26| gegenüber allem, was majestätisch, erhaben, tiefsinnig, in frommer Sprache und falscher Demut daherkommt. Ich habe versucht zu sagen, was ich meine, wenn ich etwas mit der Ruach, Gottes Geistkraft, in Verbindung bringe. Da geht es um Kampf, um Gerechtigkeit, um Leidenschaft, um Grenzen-Überschreiten, um Weinen und Lachen, um Sagen und Hören, um Übersetzen, um Entdecken und Nachdenken. Es gibt eine Beschreibung der Weisheit im biblischen Buch der Sprüche. Da erscheint sie als einladende, bewirtende Frau. Die Weisheit, die Sophia, ganz alltäglich, grosszügig allerdings, zugeneigt, offen. Eines hat mich an diesem Buch immer fasziniert: Eine gewisse Nüchternheit und Alltäglichkeit, mit der wichtige Beziehungen, Situationen und Verhaltensweisen von Menschen angesprochen werden, mögen sie nun das Miteinander unter Menschen oder mit Gott betreffen. Dieses Buch redet über gelebte Spiritualität und deshalb über Beziehungen.

Bewegung zu den Menschen hin

Spiritualität, die für sich allein, als Haltung des Rückzugs von andern, gepflegt wird, macht mich zutiefst misstrauisch. Ausdrücke wie «meine innere Mitte suchen», erwecken bei mir die Lust auf sarkastische Überlegungen. Mercy Oduyoye, eine feministische Theologin aus Ghana, hat in Harare an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates im Jahr 1998 die Befürchtung ausgesprochen, dass das boomende Christentum in Afrika wie eine Zwiebel sein könnte: Wenn man sie öffnet, schält, ist am Schluss nichts mehr da. Manchmal verdächtige ich gewisse spirituelle Abenteuer, die Menschen empfohlen werden, dass sie zum Zwiebelschälen führen, und Menschen schliesslich leer, enttäuscht über sich selber und den Geist, den man ihnen gestohlen hat, zurücklassen.

Reiche können sich solche Spiritualität leisten, weil sie die entdeckte Hohlheit flugs mit materiellen Gütern füllen können. Arme brauchen nicht die Entdeckung ihrer Armut, sondern die Zusage, dass sie die Fülle des Geistes bekommen, wie es die erste Seligpreisung in der Bergpredigt Jesu verheisst. Spiritualität hat für mich mit Suche zu tun, mit Bewegung, aber nicht in mir selber, sondern mit der Suche nach Gerechtigkeit, mit der Bewegung zur Welt und den Menschen hin. Dafür brauche ich die Ruach, den Geist und die Weisheit. Sie weckt in mir Zorn und Wut, Sehnsucht und Leidenschaft.

Unbezwingbarer Geist des Protests

Letzthin habe ich ein Fotobuch aus Südafrika gefunden: Am 9. August 1956 standen 20 000 Frauen vor dem Regierungsgebäude in Pretoria, um gegen das Passgesetz zu protestieren. Sie waren von überall her gekommen und standen nun dicht gedrängt in grossen Halbkreisen und warteten darauf, dass ihre Führerinnen die Petition ablieferten. Wie im Apartheidstaat üblich: Der Premierminister hat die Frauen nicht empfangen. Seither heisst dieser Tag «Frauentag», und für viele Frauen, die vorher nicht politisch waren, war es der Beginn des Kampfes um das Menschsein. So erzählt |27| es auch Helen Joseph, eine weisse Mittelstandsfrau, damals 51 Jahre alt, in ihrem Buch «Allein und doch nicht einsam». Als Protest haben die Frauen ihre Arme zum ANC-Gruss erhoben und so eine halbe Stunde still zusammengestanden. «Nach der Protestkundgebung gingen die Frauen – genau so ruhig und diszipliniert wie sie gekommen waren – die Treppe zur der Strasse hinunter; nur sangen sie jetzt. Und dann waren die Gartenterrassen wieder leer – nicht wirklich leer, denn etwas von dem unbezwingbaren Geist des Protests muss zurückgeblieben sein. Und vielleicht ist er immer noch da, auch wenn man ihn nicht sehen und nicht greifen kann.»5 So ist der Terrassenplatz vor dem verhassten Regierungsgebäude zu einem Ort der Spiritualität geworden. Ich kenne noch andere solche Orte, und sie machen mich jeweils andächtiger als Kapellen und Kirchen mit Kerzen und Weihrauch, Wandgemälden und Kanzeln. Es sind Orte, an denen Zeuginnen und Zeugen des Kampfes um die Gerechtigkeit gedacht wird. Das könnten Kirchen auch sein, wenn sie nur nicht von uns Menschen zu Orten des Rückzugs, der Feigheit, der Anpassung, zu Orten schwelgender, spiritueller Vernebelung gemacht worden wären.

Fürbitte

Eine der intensivsten spirituellen Erfahrungen ist für mich das Gedenken in einem liturgischen Rahmen. Es gibt dafür mehrere Formen, zwei von ihnen habe ich als sehr hilfreich für widerständige Gruppen empfunden und zwar gerade auch, wenn Menschen darunter sind, denen religiöse Sprache und Formen fremd sind. Die eine ist das Gedenken für Menschen, die im Kampf um Gerechtigkeit gestorben sind. Da mag es denn heissen: «Ich denke an … die … gesagt, getan, bedeutet hat.» Die andere ist das Gedenken an jene, die kämpfen, leiden, hoffen. Die Fürbitte in verschiedenen Formen und in so profaner Sprache, wie möglich, ist eine grosse Hilfe gegen die Verzweiflung, die Mutlosigkeit, die Resignation, die alle bedroht; sie setzt sich mit den Mächten der Ungerechtigkeit auseinander. Auf einer Tagung haben wir jeweils am Morgen und am Abend einen Moment der gemeinsamen Besinnung angeboten. Beim ersten Mal waren wir kirchlich sozialisierten Teilnehmenden so ziemlich unter uns. Beim dritten Mal waren auch die bekennenden A-Kirchlichen dabei und haben das Gedenken mitgetragen. Eine Freundin aus dem linken Spektrum hat zu mir gesagt: «Darum beneide ich euch. Ihr habt eine gemeinsame Sprache, in der Dinge gesagt werden können, die verbinden.»

Sprache der Liebe

Spiritualität hat etwas mit Übersetzen, Deuten und Sprache zu tun. Eine Spiritualität, die sprachlos macht oder gar die Sprachlosigkeit als höhere Form der Vergeistigung anpreist, steht für mich in der Gefahr, lieb-los zu werden. Sprachverweigerung ist intensivste Liebesverweigerung. Das hat mich ein Ehepaar gelehrt, dessen Streitigkeiten |28| jeweils so ausgetragen wurden, dass der Mann schwieg, von einer Woche bis zu zwei Monaten. Während einer solchen Phase, wurde ich zum Essen eingeladen. Das Gespräch ging im Dreieck über mich. Ich bin noch nie so nahe an einen hysterischen Schreianfall geraten. Schweigen kann seine Zeit haben, Schweigen kann wohltuend und sogar verbindend sein, aber es braucht die Deutung der Sprache, die Begrenzung durch Sprache, sonst wird Schweigen chaotisch und tödlich.

Ich habe grosse Hemmungen beim Tanzen im gottesdienstlichen Rahmen und habe mich gefragt, warum. Zum einen bin ich extrem scheu, wenn es darum geht, dass andere mich anschauen wenn ich mich bewege, und zum andern kommt es mir so künstlich vor. Pina Bausch, die Choreografin aus Wuppertal, erzählt, dass sie in Mexiko in einen Saal geführt wurde, wo Hunderte von Paaren – junge, alte – getanzt haben. Gesittet sei es zugegangen, aber im Saal habe eine fast greifbare Erotik geherrscht: «Es war so schön; ich habe weinen müssen.»

Vielleicht fehlt mir im heutigen Spiritualitätsboom die Erotik, die Sprache der Liebe.

Erschienen in FAMA 3/1999: «Erkundungen zu Spiritualität»

Gott ist immer Gott

Isabelle My Hanh Derungs

Oft schon wurde ich gefragt, zu welcher Religion ich gehöre. Dann staunten die Fragenden darüber, dass ich so viel Zeit benötigte, um ihnen eine Antwort zu geben. Doch gerade das, was in uns und mit uns wohnt, scheint schwierig zu erfassen. Ich wusste oft nicht, wie ich den Leuten eine verständliche Antwort geben konnte. Mein Gott hat keine Nationalität, kennt keine Hautfarbe, gehört zu keiner Partei und lässt sich in keine Religion einordnen. Er ist weder christlich noch buddhistisch noch muslimisch. Er ist Gott. Genauer gesagt, er ist mein Gott. Nicht weil er mir allein gehört, sondern weil ich nicht weiss, ob die Fragenden diesen Gott meinen.

Da mein Gott keine Erklärung braucht, aber ich und die Menschen, die mich fragten, antwortete ich in ihrer Sprache: «Meine Mutter ist reformiert, meine Onkel sind buddhistisch.» Die Leute gaben sich damit kaum zufrieden. Nochmals erklärte ich: «Mein Urgrossvater hatte zehn Kinder. Er wurde konfuzianisch erzogen, Taoismus und Buddhismus waren in seinen alltäglichen Handlungen eingebettet. Ein Ahnenaltar stand im Zentrum des Hauses. Als meine Grossmutter durch die Kriegswirren |29| des Ersten Indochina-Krieges im Alter von 25 Jahren ihren Mann verlor, bat sie ihren Vater um Erlaubnis, zum Christentum überzutreten. Mein Urgrossvater tat mehr, als es nur zu erlauben. Er beschützte sie in ihrem Entscheid in einer Zeit, in der gerade die westliche Kultur den Konflikt im Lande auslöste. Er unterstützte sie, nicht, weil er glaubte, das Christentum sei die bessere Religion, sondern weil er alle seine zehn Kinder liebte und jedem und jeder die Freiheit gab, die Religion zu wählen, die ihnen half, das Leben lieben zu lernen.» Mein Urgrossvater hat seine Heimat und seinen Geburtsort nie verlassen. Kein Krieg konnte ihn von seinem Herkunftsort wegbringen. Er starb in seinem Haus, nahe bei seinem Ahnen- und Familiengrab, das heute umgeben ist von Mais- und Reisfeldern, Bananenpalmen und Obstbäumen, vom Garten, den er einst so liebevoll inmitten der Herzen seiner Vorfahren pflegte und der ihn heute in seinem Schoss umarmt. Heute gehen manche Bauern an seinem Grab vorbei, und manche zünden Weihrauchstäbchen an, als wäre er auch ihr Urgrossvater. Mögen er und sein Garten auch ihnen Segen bringen. Doch wie lange sein Grab noch dort stehen darf, weiss nur der viel gelobte Fortschritt. Vielleicht kommt sehr bald ein Kran. Die Ahnen verschwinden, so auch die Bäume.

Das Land der Ahnendüfte

Meine Mutter hat also die Religion ihrer Mutter übernommen. Sie und ihre Mutter gingen jeden Sonntag in die einzige evangelische Kirche in Saigon (die ehemalige Hauptstadt Südvietnams, heute Ho Chi Minh), und ich folgte ihnen als Tochter und Enkelin. Ich ging am liebsten zu Weihnachten in die Kirche. Alle Kinder kriegten dann nämlich eine Tüte voller Bonbons, und die Erwachsenen waren an diesem Tag besonders nett, auch zu den hässlichsten. Ich erhielt auch die Gelegenheit, meine Tanten und Cousinen in buddhistische Tempel und in die katholische Kirche zu begleiten. Beeindruckt und gleichzeitig eingeschüchtert war ich vom aufsteigenden Rauch der Weihrauchstäbchen, der allmählich eine immer grössere und mächtigere Gestalt annahm und dann auf einmal verschwand, aber tief in alle meine Poren drang, so dass ich zu Hause noch lange den Duft der Gestalt an mir und in mir riechen konnte. In Vietnam machte ich mir wenig Gedanken über Gott und die Welt. Warum auch? Ich fühlte mich trotz den Bombardierungen um Saigon geborgen. Menschen, die ich liebte, waren da. Jeden Morgen durfte ich meine Lieblingssuppe essen, abends fuhr ich mit meinem Onkel und Cousin zum Hafen, um frische Muscheln zu geniessen. Ich freute mich auf die Regenzeit. Der Himmel, der meine Haut und die Seele mit seinen Tränen benetzte. Meine Heimat ist das Land der Ahnendüfte.

Angst und Gottesnähe

In der Schweiz ging meine Mutter in die freie evangelische Kirche und ich als ihre Tochter mit ihr. Zum ersten Mal hörte ich, was Gott liebte und hasste, wen er beschützte und bestrafte. Dass Jesus für mich am Kreuz gestorben sei. Dass ich sündig sei. Dass Adam und Eva meine Vorfahren seien und den Apfel gegessen hatten – die |30| Äpfel, die ich gar nicht mochte. Und dass ich mich vor dem Teufel in Acht nehmen sollte. Ich lernte die Angst, die ich vorher nicht kannte. Ich wurde von der New Life Gemeinde nochmals getauft, ich wurde fromm. Ich wusste nicht, wo ich Gott näher war: wenn ich in der Kirche von meinen Sünden hörte oder wenn ich jeden Mittwoch in die Bibelstunde ging oder wenn ich hörte, dass nur die Christen gerettet werden, oder wenn meine New-Life-FreundInnen sich Mühe gaben, meine Fragen zu beantworten und mich berieten, welche Bücher ich lesen sollte und welche besser nicht. Ich fühlte mich meinem Gott sehr nahe, wenn ich in den Wald flüchtete, dort dem Rascheln der Blätter lauschte, mit den Vögeln sang und an den Garten meines Urgrossvaters dachte. Ich fühlte mich meinem Gott sehr nahe, wenn ich den Mond betrachtete, der überall auf der Welt zu sehen ist, ob im Norden oder im Süden, ob auf dem Lande oder in den Städten. Ich fühlte mich meinem Gott sehr nahe, wenn ich die mir entgegenrinnenden Regentropfen empfing. Ich fühlte mich meinem Gott sehr nahe, wenn ich den Ameisen zuschaute, wie sie Samen sammelten, um ihre Nachkommen zu nähren, und sich wahrscheinlich nicht die Frage stellten, ob Gott eine rote oder schwarze Ameise sei. Ich sah Gott in den Gesichtern von Kindern, die mich nicht kannten und mich trotzdem lachend willkommen hiessen. Ich sah Gott in den Gesichtern von Menschen, die gestern noch Offiziere waren und durch den Krieg Rikschafahrer wurden und sich immer noch über die klare Nacht freuten, weil sie in ihrer Hütte die Sterne leuchten sahen. Ich sah Gott in den Gesichtern von Männern und Frauen, die mich mit ihrem Blick umarmten, als wäre ich ein Teil von ihnen: eine Schwester, eine Tochter, eine Tante …

In die Bibelstunde kam ich immer mit der Frage, was mit den gläubigen Muslimen geschieht. Als ich neunzehn wurde, verliebte ich mich in einen Muslim. Er war ein gläubiger Mann. Meine Freunde klärten mich auf, dass ich als Christin besser einen Christen zum Mann wählen sollte. An einem Sonntag in der Kirche sangen wir gerade das Hallelujah. Ich sah plötzlich den jungen Mann in einer anderen Reihe. Er war gekommen, um mir eine Freude zu bereiten; und ich verstand, dass Gott keine Grenzen kennt. In diesem Augenblick war mein Gott auch sein Gott, wie sein Gott meiner ist.

Wiederentdeckung

Viele Jahre später lernte ich meinen heutigen Mann kennen. Er ist katholisch. Er ging in die Kirche oft vor oder nach der Messe. Er betrachtete jede Skulptur, jedes Ornament genau. Er fand die meisten reformierten Kirchen zu abstrakt. Am Anfang konnte ich ihn nicht verstehen und fasste seine Bemerkungen fast als Beleidigungen auf. Dabei lehrte er mich, das wieder zu entdecken, was ich vergessen hatte. Wir besuchten viele Kirchen und betrachteten die Landschaft, in der sich die Kirchen befanden. Wir lernten die Sprache der Landschaft und der alten Traditionen kennen. Wir entdeckten Spuren, die mich in meine Heimat zurückbrachten. In manchen Kirchen zündete ich wieder Kerzen an, als wären sie Weihrauchstäbchen. Der Duft |31|