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Inhalt

Titelei

Inhalt

Vorwort

Teil A

1 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Leben

Der rätselhafte Kierkegaard

Der religiöse Schriftsteller

Die indirekte Mitteilung

Kierkegaards Biografie in wenigen Daten

Der Vater

Regine Olsen

2 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Werk

Zwei Lesarten Kierkegaards – ein kurzer Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte

Was hat Kierkegaard mit Philosophie zu tun?

Drei verschiedene Textsorten

Flugblätter gegen die verbürgerlichte Kirche

Teil B

1 Der Streit des Gebets (1844)

A »Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – dadurch, daß Gott siegt«

B Interpretation

Pseudonyme Schriften und Erbauliche Reden von 1844

Der Streit des Beters mit Gott

Kindliches und erwachsenes Beten

Der Streit mit dem Weisen

Im Gebet verändert sich die Gottesbeziehung

C Bezug zur Gegenwart

Missverstandene Innerlichkeit

Innerlichkeit und »Entweltlichung«

Innerlichkeit und Aktivismus

Innerlichkeit und Anbetung

2 Innerlichkeit (1844)

A »Die Bestätigung in dem inwendigen Menschen« (1843)

B Interpretation

Einleitung

Hauptteil der Rede

A. Der inwendige Mensch (131–134)

B. Wohlgelingen dient zur Bekräftigung (134–140)

C. Übelgelingen dient zur Bekräftigung (140–145)

D. Wohl- und Übelgelingen dienen zur Bekräftigung (145–148)

Schluss (148)

C Bezug zur Gegenwart

3 Der Einzelne (1847)

A Aus Anlass einer Beichte (1847)

B Interpretation

Kierkegaards Auseinandersetzung mit dem »Corsar«

Die Frage nach dem Einzelnen als Gewissensfrage

Die Dialektik von Einzelnem und Nächsten

Das Elend des Vergleichens

Das Märchen von der bekümmerten Lilie

C Bezug zur Gegenwart

Der Einzelne und die Quote

4 Erbauung (1847)

A »Liebe erbaut« (1847)

B Interpretation

Was heißt erbauen?

Sehen, was in Wahrheit Liebe ist

Alles kann erbaulich sein, wenn Liebe dabei ist

Kierkegaards Begriff des Erbaulichen

Das Erschreckende als Kehrseite des Erbaulichen

C Bezug zur Gegenwart

5 Die Sorge (1848)

A Die Sorge der Selbstquälerei

B Interpretation

Zur Situation

Zum Aufbau der Reden

Ein biografisches Beispiel

C Bezug zur Gegenwart

Hochrechnungen und Sorgen

»Planen als plante ich nicht«

6 Der einladende Christus als Gestalt der Kirche (1848)

A Eine erbauliche Rede zu Mt 11,28 (1848)

B Interpretation

Was Jesus von anderen Ärzten und Helfern unterscheidet

Christus als der wahre Arzt

Jesus lädt die Sünder ein

Thorvaldsens Christus

Gemeinschaft der Glaubenden

C Bezug zur Gegenwart

Christus als Gemeinde

Die Gestalt des Einladenden heute

7 Über das Erzählen (1848)

A Einübung im Christentum, 3. Teil, III (1848)

B Interpretation

Ein evangelisches Exerzitium

Vom liebevollsten Menschen erzählen

Die Wirkung der Erzählung auf das Kind

Ein Kind als Beispiel für Erwachsene

Wie erzählt werden soll

Das Poetische in Beziehung zum Leben bringen

C Bezug zur Gegenwart

Christentum als Erzählgemeinschaft

Aufmerksamkeit

Lebendiges Erzählen – drei Beispiele

8 In Jesu Seelsorge (1849)

A Der Hohepriester. Rede zum Altargang am Freitag (1849)

Hebräer 4,15

B Interpretation

Trösten – wie geht das?

Jesus Christus und die andere Qualität des Mitleidens

»Rede zum Altargang«

»Die Krankheit zum Tode« im Verhältnis zu den »Drei Erbauliche Reden«

C Bezug zur Gegenwart

Selbstseelsorge

Selbst werden

9 Die Bibel – ein Liebesbrief (1851)

A »Sich mit wahrem Segen beschauen im Spiegel des Worts« (1851) Aus einer erbaulichen Rede zu Jak 1,22–27

B Interpretation

Die Heilige Schrift: Gottes Wort

Begegnung mit dem Bibeltext, kein Buchstabenglaube

Der unbedingte Anspruch des Wortes Gottes

Was der Liebende tun soll

Radikaler Gehorsam

Mögliche Einwände gegen Kierkegaard

C Bezug zur Gegenwart

10 Gottes Unveränderlichkeit (1851 / 1854 / 1855)

A In Gottes Unveränderlichkeit zur Ruhe kommen262

B Interpretation

Zur Situation des Predigers

Ruhe in Gottes Unveränderlichkeit

Kierkegaard als Prediger

Streit mit der Staatskirche

Die neue Situation der Citadelpredigt

Kierkegaards Sterben und Tod

C Bezug zur Gegenwart

Gericht und Gnade

Teil C

1 Wie Sören Kierkegaard seinen Lesern Türen öffnen kann

2 Sören Kierkegaard – zwischen Himmel und Hölle

Literatur

Sören Kierkegaard

Literatur

Fußnoten

Seitenverzeichnis

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Vorwort

Dieses Buch ist aus zwei Vorlesungen erwachsen, die wir gemeinsam in den Sommersemestern 2011 und 2012 an der Universität Heidelberg gehalten haben, um Studierende aller Fakultäten in Glauben und Denken Kierkegaards einzuführen. Üblicher Weise1 werden dafür pseudonyme Schriften Kierkegaards wie »Entweder-Oder«, »Philosophische Brocken«, »Der Begriff Angst« oder »Die Krankheit zum Tode« herangezogen, weil vor allem sie seinen Namen bekannt gemacht haben. Seine Reden bleiben aber meist unbeachtet, ihre besondere Bedeutung für das Verstehen seines Glaubens und Denkens wird nicht erkannt.

Wir haben vor allem auf diese Reden zurückgegriffen, weil Kierkegaard sie unter seinem eigenen Namen herausgegeben hat. Diese fast hundert literarischen Reden sind deshalb so provokant, weil sie von einer Leidenschaft des Glaubens geprägt sind. Gerichtet sind sie an »jenen Einzelnen, den ich meinen Leser zu nennen die Ehre habe«. Wer ist das – »jener Einzelne«? Es ist jeder, es ist jede, freilich so, dass sie zu sich selbst kommen, den trügerischen Schutz der Menge und des »Meinungssuffs« verlassen und verantwortlich für sich selbst werden. Dieser widerständige Einzelne ist für Kierkegaard freilich nur die andere Seite einer Gemeinschaft, die von der Verantwortung des Einzelnen lebt und auf die Würde des Einzelnen achtet. Jeder Mensch wird dann zum »Nächsten«, wie Kierkegaard in seiner wohl großartigsten Sammlung von 18 Reden ausführt, die er unter dem Titel »Der Liebe Tun« (1847) herausgab.

Was Kierkegaards Reden auszeichnet, ist die Widerstandskraft, die sie ihrem Leser verleihen, um Einzelner zu werden, der sich nicht mehr von jedem neuen Lüftchen der Zeit wegwehen lässt. Kierkegaard nennt diese Widerstandskraft »Innerlichkeit«, die es im Menschen zu »erbauen« gilt. Deshalb geht es um »Erbauliche Reden«, die einen ähnlich programmatischen Charakter haben wie eine Generation zuvor Schleiermachers »Reden |8| über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1799). Kierkegaards Reden sind in ihrer Existenzmitteilung nicht apologetisch, sondern polemisch: Sie greifen eine Gesellschaft an, der die Leidenschaft des Denkens und des Glaubens abhandengekommen ist; sie greifen vor allem eine an die üblichen Denkschemata der Zeit angepasste Christenheit an und üben mit dem Leser und der Leserin Schritt für Schritt, Rede für Rede ein Verstehen des Lebens ein, das zwar rückwärts reflektiert werden kann, aber vorwärts gelebt werden muss.

Kierkegaard wollte, dass seine Schriften, vor allem seine Reden, laut gelesen werden. Deshalb haben wir die Vorlesung jeweils in der Universitätskirche begonnen, um eine der ausgewählten Reden in gekürzter Fassung2 laut zu Gehör kommen zu lassen. Anschließend ging es in den Hörsaal, wo das Gehörte interpretierend in den Kontext von Kierkegaards Glauben und Denken gestellt wurde. Schließlich haben wir den Versuch gewagt, von Kierkegaards Impulsen aus einen Bezug zur Gegenwart herzustellen, um nicht bloß über Kierkegaard zu reden, sondern mit ihm weiterzudenken. Dieser Dreischritt bestimmt auch die zehn Kapitel in Hauptteil B des vorliegenden Buches.

Wir danken den Hörern und Hörerinnen unserer Vorlesungen für die engagierte und kritische Teilnahme, besonders Annette Röhrs und Rico Drechsler für hilfreiche Vorschläge zur Überarbeitung unseres Manuskripts.

Wir grüßen Lothar Steiger, der als ein Schüler von Hermann Diem und Hans-Georg Gadamer in seinen Wuppertaler wie Heidelberger Vorlesungen und Seminaren ebenso wie mit seinen tiefschürfenden Aufsätzen3 viele Studierende für Kierkegaard begeistert, den Wuppertaler Freund inspiriert |9| und den Heidelberger Schüler auf den Weg gebracht hat, das Humane bei Kierkegaard zu lernen.4

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Teil A

1 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Leben

Der rätselhafte Kierkegaard

Selten war ein Mensch sich selbst, seiner Mitwelt wie seiner Nachwelt so rätselhaft wie der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geborene und am 11. November 1855 in Kopenhagen gestorbene Sören Aabye Kierkegaard. In einer geselligen Abendrunde konnte er der witzigste und geistreichste Teilnehmer |12| sein, so dass alle denken mussten, was für eine glückliche Natur dieser junge Student sei. Dann aber ging Kierkegaard nach Hause und schrieb in sein Tagebuch:

»Ich komme jetzt gerade von einer Gesellschaft, wo ich die Seele war, Witze strömten mir nur so aus dem Mund, alle lachten, bewunderten mich – aber ich ging –––––, ja der Gedankenstrich müsste genauso lang sein wie die Radien der Erdbahn und wollte mich selbst erschießen.«5

Er kleidete sich gelegentlich wie ein Dandy und spazierte am Nachmittag durch Kopenhagens Hauptstrasse mit seinem Spazierstock, als genieße er das Leben und sei ein Müßiggänger. Doch kaum war es dunkel geworden, eilte er zurück in seine Wohnung und arbeitete bis Mitternacht an mehreren Stehpulten weiter, sei es an seinem Tagebuch, an einer pseudonymen Schrift oder an einer erbaulichen Rede.

Gab er sein erstes Hauptwerk »Entweder-Oder« in zwei Bänden 1843 heraus, so gab er dem Verfasser das Pseudonym Victor Eremita (der siegreiche Einsiedler). Natürlich sprach sich bald in Kopenhagen herum, dass Kierkegaard in Wahrheit der Verfasser sei. Und doch ließ sich der wahre Verfasser auf der Straße oder an anderem Ort nicht auf sein Werk ansprechen, sondern war nur bereit, über den pseudonymen Verfasser und dessen Werk zu reden. Warum dieses Versteckspiel? Probiert hier einer die Rollen seiner Existenz aus, erprobt er Möglichkeiten des Lebens und spielt sie durch, um sie seinem Leser zuzuspielen?

Das macht es so schwer, Kierkegaards Leben auf die Spur zu kommen: Bei fast jeder seiner Äußerungen bezieht er sich auf seinen Leser und entzieht sich doch zugleich, als wollte er sagen: Hier bin ich und bin es doch nicht. Nennt mich meinetwegen den »Sokrates Kopenhagens«. Ja, ich habe über Sokrates und dessen Ironie eine Magisterarbeit6 geschrieben. Mit dieser Rolle könnte ich mich angesichts der Geisteszustände Kopenhagens gut anfreunden, wie mir Sokrates überhaupt zu dem Weisen des Altertums geworden ist. Mit ihm vergleichen könnte ich mich freilich nicht.

Nennt mich den »Spion Gottes«, wie ich es selbst einmal in mein Tagebuch geschrieben habe. Das bin ich und bin es doch nicht, denn Gott ist im Himmel und ich auf der Erde. ER weiß, was er mit mir vorhat.

|13| Nennt mich einen »Philosophen«! Ja, ich habe viel Philosophie studiert, habe Schelling in Berlin gehört, habe mich mit Hegel an vielen Stellen meiner Schriften direkt oder indirekt auseinandergesetzt, wäre gern der Nachfolger meines verehrten philosophischen Lehrers Poul Möller an der Universität Kopenhagen geworden, habe auch eine kleine Schrift mit dem Titel »Philosophische Brocken« mitsamt einer sehr langen »Unwissenschaftlichen Nachschrift« herausgegeben, aber ein Philosoph bin ich nicht, auch wenn mich die Philosophiegeschichte zum Begründer der »Existenz-Philosophie« machen will.

Nennt mich einen »Psychologen«! Ja, ich habe zwei meiner Schriften Untertitel gegeben, die mein großes Interesse an der Psychologie zum Ausdruck bringen: »Eine schlichte psychologisch andeutende Überlegung« (»Der Begriff Angst«) und »Eine christlich-psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung« (»Die Krankheit zum Tode«); auch hat mein Verständnis vom »Selbst« besonders in der humanistischen Psychologie eine große Bedeutung gewonnen. Aber ein Psychologe bin ich gleichwohl nicht, denn ich habe eigentlich nur mich selbst im Licht Gottes reflektiert und dabei festgestellt: »Je mehr Vorstellung von Gott, um so mehr Selbst; je mehr Selbst, umso mehr Gottesvorstellung«.7

Nennt mich einen »Theologen«! Ja, ich habe auch Theologie studiert, 10 Jahre lang, und habe sogar ein theologisches Examen in Kopenhagen gemacht, habe eine Probepredigt für Kandidaten gehalten und die Anstellungsfähigkeit für die Kirche erworben, aber ich bin kein Pfarrer geworden, habe nicht die Ordination der Kirche erhalten und habe doch oftmals mit dem Gedanken gespielt, irgendwo in einem Dorf Dänemarks Pfarrer zu werden. Letztlich aber war das mir nicht möglich.

Das Schlimmste aber wäre, wenn irgend so ein Professor über mich und mein System dozieren würde. Denn ich habe gar kein System und gehöre keiner Schule an, auch wenn sich Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Carl Rogers, Rudolf Bultmann, Karl Barth u. a. häufig auf mich berufen haben.

Der religiöse Schriftsteller

Wer aber ist dann eigentlich dieser Sören Kierkegaard? Er spürte wohl, wie oft diese Frage von seinen Lesern an ihn herangetragen wurde, vielleicht auch in ihm selbst arbeitete, bis er schließlich eine kleine Schrift im Jahr 1851 |14| herausgab: »Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller«8. Darin legte er sich endlich einmal fest: Religiöser Schriftsteller sei er, der »ohne Vollmacht« auf das Religiöse, das Erbauliche, das Christliche aufmerksam mache. »Ohne Vollmacht« heißt für Kierkegaard nicht nur, ohne kirchliche Bevollmächtigung, sondern auch ohne den Anspruch, ein besserer oder gar vollkommener Christ zu sein. Vielmehr betrachte er sich am liebsten als einen Leser seiner Bücher, nicht als deren Verfasser.

Und was ist das »Religiöse« dieses »religiösen Schriftstellers«? Auch hier legt Kierkegaard sich in derselben kleinen Schrift fest und nennt eine Kategorie, die für ihn so maßgeblich wurde, dass er eine Zeitlang sogar erwog, sie auf seinen Grabstein setzen zu lassen: »DER EINZELNE«: »Die Bewegung ist: fort vom Publikum zum ›Einzelnen‹.« Religiös gebe es nämlich kein Publikum sondern nur Einzelne; das Religiöse sei der »Ernst«, denn ernsthaft werde es erst beim Einzelnen, jedoch so, »daß jeder Mensch, unbedingt jeder Mensch, der Einzelne sein kann, ja sein soll, so wie er es denn ja ist«.9

Anmerkungsweise fügt Kierkegaard gegenüber allen, die ihn fälschlicher Weise auf Individualismus festlegen wollen, noch hinzu, dass die Gemeinde, soweit es sie religiös gibt, nur die andere Seite des Einzelnen sei. Sie dürfe aber auf keinen Fall mit der politischen Größe des Publikums, der Menge, des Numerischen verwechselt werden. Gemeinde im christlichen Sinn schaffe Raum für die Würde und die Überzeugung des Einzelnen, wie umgekehrt der Einzelne für die Gemeinde einsteht und ihr in seinem Leben Raum gibt. In der christlichen Gemeinde gelte nicht das numerische Gesetz, wonach die Mehrheit sagt, was Wahrheit ist. Deshalb war Kierkegaard auch skeptisch gegenüber der Entwicklung seiner Zeit zur Demokratie, weil er fast prophetisch aus der Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit solche Gefahren hervorgehen sah wie z. B. den Massenwahn des Nationalsozialismus, der bekanntlich mit demokratischer Mehrheit 1933 an die Macht kam.

Schließlich bringt Kierkegaard an derselben Stelle seiner kleinen Schrift »Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller« noch sein Credo kurz und bündig zum Ausdruck: »Und das ist mein Glaube: so viel Verwirrtes und Böses und Widerwärtiges an den Menschen sein mag, sobald sie, der Verantwortung und Reue ledig, ›Publikum‹, ›Menge‹ und dgl. werden: ebensoviel Wahres und Gutes und Liebenswertes ist an ihnen, wo man sie einzeln zu fassen bekommt. O, und in welchem Maße würden die Menschen nicht – |15| Menschen werden und liebenswert, wenn sie Einzelne würden vor Gott!«10 Dieses Credo bringt eine Steigerung zum Ausdruck: Von der Menge, der man verfallen kann, über den Einzelnen, den es zu fassen gilt, bis zum Einzelnen, den es vor Gott zu bringen gilt. Das hört sich einfach an und ist ja auch ganz einfach, weil jeder Mensch von Haus aus ein Einzelner ist. Und doch ist Kierkegaards ganzes Leben im Grunde ein Kampf um den Einzelnen gegen die Verführung der Menge. Es ist so bequem, in der Menge mitzulaufen und sich als Einzelner dem allgemeinen Trend zu beugen. Einzelner muss ich immer erst gegen den Sog der Menge werden, und ich werde es in besonderem Maß, wenn ich vor Gott komme, weil mich dann Reue und Gnade bestimmen, während der Einzelne in der Menge verstummt: »Wir sind viele, ganz viele!«

Drei Gesichtspunkte scheinen mir für die Annäherung an Kierkegaards Leben besonders wichtig zu sein:

  1. In den Äußerungen zu seiner Wirksamkeit als Schriftsteller gibt sich Kierkegaard als einer zu erkennen, der sich dem geschriebenen Wort anvertraut hat, weil er offenbar darin seine Berufung und sein Charisma für sein Wirken und sein Leben gefunden hat. Mit dem geschriebenen Wort konnte er so virtuos wirken wie kaum ein anderer, während die wenigen Male, die er in Kopenhagen tatsächlich predigte, unschwer erkennen ließen, dass das mündliche Wort schon stimmlich seine Sache nicht war. Die meisten Leute konnten ihn mit seiner leisen Stimme schon akustisch kaum verstehen.11
  2. Kierkegaard versteht sich als religiösen, erbaulichen Schriftsteller. Das Erbauliche ist freilich für ihn erst einmal das Erschreckende, weil es darum geht, den Menschen mit sich selbst zu konfrontieren, um die Masse zu zerteilen und der Menge zu widerstehen, damit er dem Sog des Trends widerstehen und ein Einzelner werden kann. Das kostet Kampf, List, Gebet und viel Kraft, wie Kierkegaards Leben zeigt.
  3. Alle Anstrengung seines Lebens gilt der eigentlichen Aufgabe des religiösen Schriftstellers, den Einzelnen vor Gott zu rufen, um ihn zu »er-bauen«, und d. h. ihn in seiner wahren Würde aufzurichten: ein Sünder zu werden, der Gottes Gnade bedarf. Denn: »Gottes bedürfen ist des |16| Menschen höchste Vollkommenheit«, wie der Titel einer erbaulichen Rede Kierkegaards von 1844 lautet.

Die indirekte Mitteilung

Auf dem Weg der Annäherung an Kierkegaards Leben sei noch einmal die Frage gestellt, warum sich dieser »erbauliche Schriftsteller« mit seinem Leben und seiner Person dem Leser immer wieder entzieht und für seine Mitwelt wie Nachwelt zum Rätsel wird. Warum spielt er für die Kopenhagener Öffentlichkeit den Dandy? Wozu braucht er für seine großen Schriften Pseudonyme? Ist das ein harmloses Versteckspiel, oder hat es vielleicht Methode?

Ja, es hat sokratische Methode, denn Kierkegaard hat von dem »Weisen des Altertums« gelernt, dass es darauf ankommt, den Gesprächspartner nicht mit fertigen Erkenntnissen abzufertigen, sondern ihn am Entstehen einer Erkenntnis zu beteiligen, und zwar so sehr, dass es am Ende scheine, als habe der Partner selber die Erkenntnis gefunden. Diese dialektische Kunst der »indirekten Mitteilung« praktiziert Kierkegaard im Dialog mit seinen Lesern. Sie sollen nicht fertige Kost serviert bekommen, sondern selbst beim Lesen mit ihrer Phantasie, mit ihrem Verstand, mit ihrem Glauben aktiviert werden. Es gibt dafür heute einen Begriff, der so voluminös klingt, dass Kierkegaard ihn bei seinem Achten auf einfache, nächstliegende Worte niemals gebraucht hätte: »Rezeptionsästhetik« (W. Iser u. a). Die Rezeptionstätigkeit der Leser gilt es beim Schreiben zu aktivieren, damit sie an dem gelesenen Text mitschaffen und ihn so zu ihrem eigenen Text, zu ihrer eigenen Sache machen.

Wenn das die Hauptsache ist, muss Kierkegaard mit seinem Leben und mit seiner Person zur Nebensache, ja eigentlich überflüssig werden. Zuweilen könnte er sogar ein Hindernis dafür werden, dass die Sache zu den Lesern gelangt. Es kommt ja darauf an, den geneigten Leser zu gewinnen und mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Deshalb gilt es zu verhindern, dass der Leser mit seinen Gedanken am Autor hängenbleibt und die Gründe für das Geschriebene im Leben des Autors sucht, in dessen Verliebtheit vielleicht oder in dessen Schwermut oder in sonst etwas. Das lässt die gelesene Sache nur bedingt beim Leser ankommen. Kierkegaard aber will den Leser »erbauen« und d. h. heilsam vereinzeln und zu sich selbst kommen lassen, damit er Abstand zum Gebrüll der Massen bekomme und sich sein eigenes Urteil bilde.

|17| Und doch ist das nur die halbe Wahrheit, denn die Sache hat, wie so oft bei Kierkegaard, noch einmal eine andere Seite, die sich schon andeutet, wenn der 23-Jährige in sein Tagebuch schreibt: Es gilt »die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will«.12 Wer so existentiell fragt und die Subjektivität zur Wahrheit erhebt, der kann gar nicht an seinem Leben vorbei, sondern muss stets durch sein Leben hindurch denken. Das zeigt sich, wenn Kierkegaard alle seine erbaulichen Reden seinem verstorbenen Vater widmet, so lenkt er den Blick des Lesers auf das Verhältnis des Sohnes zum Vater. Er wirft beim Leser die Frage auf, was dieser Vater für diesen Schriftsteller bedeutet. Subtiler ist es mit den vielen versteckten Anspielungen auf seine ehemalige Verlobte Regine Olsen, die den kundigen Leser nachdenklich machen und fragen lassen, welche Rolle diese Frau im Leben Kierkegaards spielt. Diese und viele andere Anspielungen machen deutlich, wie das Leben |18| bei Kierkegaard zum Stoff eines existenziellen Denkens geworden ist. Deshalb ist es unerlässlich, dieses Leben wenigstens in seinem Grundriss und in wenigen Daten kennen zu lernen.

Kierkegaards Biografie in wenigen Daten

Die wenigen Daten erwecken vielleicht den Eindruck, dass die 42 Jahre von Kierkegaards Leben doch wenigstens in den ersten 25 Jahren ziemlich ruhig und beschaulich in Kopenhagen verlaufen seien: Jüngstes Kind einer kinderreichen Familie, Vater ein Wollwarenhändler, der es zu einigem Reichtum im Laufe des Lebens gebracht hat, so dass der Sohn nach einem elfjährigen Theologiestudium samt Prüfungen und Magisterexamen es sich leisten konnte, nicht ins Pfarramt zu gehen, sondern von dem ererbten Vermögen seines Vaters als freier Schriftsteller zu leben und eine Menge Bücher zu schreiben. Berühmt machte ihn gleich sein erstes Werk »Entweder-Oder«, das in den literarischen Kreisen Kopenhagens großen Beifall fand. Neben der ersten Berlinreise wären noch drei kürzere Berlinreisen zu nennen und eine Reise nach Nord-Jütland, wo sein Vater 1756 geboren worden war. Schließ-lich gab es noch ein paar Ausflüge an die Nordspitze Seelands und nach Jütland. Das war aber schon die ganze Reise- und Ausflugstätigkeit Kierkegaards, insgesamt nicht einmal ein ganzes Jahr in seinem Leben.

|19| Wo liegt das Aufregende und Rätselhafte dieses Lebens, das so unendlich viele Biografien und Abhandlungen über Kierkegaards Leben hervorgebracht hat, wie z. B. die jüngste Biografie des Dänen Joakim Garff, die im Jahr 2000 in Kopenhagen und 2005 in Deutschland erschien und nahezu 1000 Seiten umfasst. Das Aufregende an Kierkegaards Leben deutet sich bereits in drei so dürren Daten an wie: 1841 Entlobung, 1846 Fehde mit der satirischen Zeitschrift »Der Corsar«; 1855 »Kampf gegen die dänische Staatskirche«. Das sind gleichsam die Explosionen in Kierkegaards Leben. Doch auch diese Daten offenbaren noch nicht sehr viel, zumal heute eine »Entlobung« gleichgültig zur Kenntnis genommen oder gar als Glücksfall zur Verhinderung einer unglücklichen Ehe angesehen wird. Das wahrhaft Explosive ereignete sich bei Kierkegaard eher als Implosion, d. h. nach innen gerichtete Katastrophe eines durch und durch reflektierten Lebens, an dessen Verlauf wir vor allem in Gestalt von Tagebüchern – in der deutschen |20| Auswahlausgabe sind es fünf Bände mit fast 2000 Seiten – und einem schmalen Briefband teilhaben dürfen. Diese Texte wie auch die pseudonymen Schriften und Reden Kierkegaards lassen durchscheinen, wie viel Schmerzen und Anfechtung, welche Höhen und Tiefen, wie viel Begeisterung und Leidenschaft sich in einem Leben ereignen können.

Neben den Lehrern und Freunden der Universität, neben den Angehörigen der Familie, neben so manchen anderen Kopenhagenern aus näherer und fernerer Umgebung sind es vor allem zwei Personen, um die Kierkegaards Reflektieren wieder und immer wieder kreist: 1. Sein Vater und 2. seine Verlobte. Der eine war ihm seit dem 8.8.1838 durch den Tod, die andere durch eine von ihm selbst betriebene rätselhafte Entlobung seit dem 11.10.1841 entzogen. Dieser Entzug löste aber in Kierkegaard einen umso stärkeren Bezug der Reflexion zu beiden aus, weil er beide in einer »Erinnerung nach vorn« (Lothar Steiger), in Richtung auf Ewigkeit, stets innerlich vor Augen hatte. Dieser Bezug ging so weit, dass sich im Tagebuch am 27.3.1848 die Notiz findet:

»Jetzt, da ich mich so gänzlich darin verstehe, ein einsamer Mensch zu sein, ohne Verhältnis zu irgendjemandem, mit tiefen Schmerzen in meinem Innern, nur mit einem einzigen Trost: Gott, der Liebe ist; mit Verlangen nur nach einem einzigen Freund, auf daß ich ganz ihm gehöre, dem Herrn Jesus Christus; mit Sehnsucht nach einem verstorbenen Vater; schlimmer als durch den Tod getrennt von dem einzigen lebenden Menschen, den ich in entscheidendem Sinn geliebt habe.«13

Es ist auffällig, dass die Sehnsucht nach seinem verstorbenen Vater ebenso wie die Sehnsucht nach seiner ehemals Verlobten, die er nicht einmal beim Namen zu nennen wagt, mit Kierkegaards glühendem Glauben an den »Gott, der Liebe ist«, und mit seinem Verlangen nach Jesus Christus, der sein einziger Freund ist, verbunden sind. Die Sehnsucht nach seinem verstorbenen Vater begleitete Kierkegaard ein Leben lang so stark, dass er ihm, wie bereits angedeutet, fast alle seine »Erbaulichen Reden« widmete: »Dem verstorbenen Michael Pedersen Kierkegaard, weiland Wollwarenkrämer hier in der Stadt, meinem Vater, seien diese Reden gewidmet«.14 Die Sehnsucht nach Regine, seiner ehemals Verlobten, ging so weit, dass sich in seinem Testament die Notiz fand: »Die unbekannte Person, deren Name einmal genannt werden wird, der das ganze Werk gewidmet ist, ist meine |21| frühere Verlobte: Frau Regine Schlegel«.15 Fragen wir also, was Kierkegaard ein Leben lang so innig an seinen Vater gebunden hat, und fragen wir zum anderen, was ihn noch viel inniger ein Leben lang an Regine gebunden hat, von der er sich doch durch eine Entlobung getrennt hatte.

Der Vater

Michael Pedersen Kierkegaard stammte aus ärmlichen Verhältnissen in Jütland. Die bittere Armut seiner Heimat muss ihn schon als kleines Kind so sehr verbittert haben, dass er als Hütejunge an einem frostigen Herbsttag auf einen Hügel stieg, die Fäuste gen Himmel reckte und Gott verfluchte, weil er ihn in einem derart elenden Dasein leben ließ. Diesen Fluch muss aber Michael Pedersen, der von der Herrnhuter Frömmigkeit geprägt war, nie mehr vergessen haben, auch dann nicht, als er zu einem reichen Verwandten nach Kopenhagen in die Kaufmannslehre kam, bald ein eigenes Geschäft als Wollwarenhändler mit großem Erfolg aufbaute und reich wurde. Als er in erster Ehe kinderlos blieb und seine Frau frühzeitig starb, und als er dann seine Magd heiratete, mit der er sieben Kinder bekam, von denen fünf in noch jungem Alter starben, da kam er zu der Überzeugung, dass seine kindliche Gottesverfluchung auf ihn und seine Familie zurückgefallen sei. Als seine Frau das 7. Kind erwartete, fasste der schon 56-jährige Michael Pedersen den Entschluss, dieses Kind Gott als Opfer darzubringen. Er gelobte, wie einst Hanna vor der Geburt ihres Sohnes Samuel (1Sam 1), dieses Kind solle Gott in besonderer Weise priesterlich gehören. So wollte er den verfluchten Gott versöhnen. Sören Aabye war also schon bei seiner Geburt am 5. Mai 1813 ein »Geopferter« und nahm diese Bestimmung, je mehr er sie im Lauf der Jahre begriff, als seine Lebensbestimmung an.

Es ist klar, dass der Vater mit diesem Sohn aufs Engste verbunden blieb und sich um dessen Erziehung in ganz besonderer Weise kümmerte. Kierkegaard gibt in einer unvollendeten und erst posthum veröffentlichten Schrift »De omnibus dubitandum est« auf pseudonyme Weise mit einer Erzählung einen Einblick in diese Erziehung:

|22| »Sein Vater war ein sehr strenger Mann, dem Anschein nach trocken und prosaisch, indessen er unter dieser Friesjacke eine glühende Einbildungskraft verbarg, die auch sein hohes Alter nicht abzustumpfen vermochte. Wenn Johannes zuweilen um die Erlaubnis bat, ausgehen zu dürfen, wurde er zumeist abschlägig beschieden; wohingegen der Vater gelegentlich zum Entgelt ihm vorschlug, an seiner Hand die Diele auf und nieder zu spazieren. Das war beim ersten Augenschein ein dürftiger Ersatz, und doch ging es damit ebenso wie mit der Friesjacke, er barg etwas ganz anderes in sich. Der Vorschlag ward angenommen, und es wurde Johannes ganz überlassen zu bestimmen, wo es hin gehen sollte. Sie gingen dann aus dem Tore, zu einem nahe liegenden Lustschlösschen oder hinaus zum Uferstrand, oder umher in den Straßen, ganz wie Johannes es wollte; denn der Vater vermochte alles. Während sie so die Diele auf und nieder gingen, erzählte der Vater alles, was sie sahen; sie grüßten die Vorübergehenden, Wagen ratterten an ihnen vorüber und übertäubten die Stimme |23| des Vaters; die Früchte der Kuchenfrau waren einladender denn je. Er erzählte alles so genau, so lebendig, so gegenwärtig bis zur unbedeutendsten Einzelheit, die Johannes bekannt war, so ausführlich und anschaulich, was ihm unbekannt war, daß er, wenn er eine halbe Stunde mit dem Vater spaziert war, so überwältigt und müde worden war, als wenn er einen ganzen Tag aus gewesen wäre. Die Zauberkunst des Vaters lernte Johannes ihm bald ab.«16

Hier liegt die Wurzel für die herausragende Gabe der Phantasie, die Kierkegaard auszeichnete. Sein Vater hat sie mit Hilfe der phantasievollen Spaziergänge im Wohnzimmer ausgebildet. Sie beflügelte den Sohn in seinen Schriften so sehr, dass seine Argumentation häufig durch eines seiner Gleichnisse zur Evidenz und d. h. zu einleuchtender Kraft gebracht wird. Es sind Gleichnisse, die den Leser zu eigener Einbildungskraft einladen. Der amerikanische Theologe T. C. Oden hat in seinem Buch »Parabels of Sören Kierkegaard«17 alle Schriften auf Gleichnisse hin durchforscht. Er kam auf insgesamt 533 Gleichnisse und Gleichniserzählungen in dem Gesamtwerk. Kierkegaard war eben ein Augen-Mensch, und er wollte die Vorstellungskraft seiner Leser und Leserinnen provozieren, so dass sie etwas zu sehen bekommen, was ihnen »einleuchtet«. Das ist eines der Geheimnisse seiner Schriftstellerkunst, das uns auch in seinen Erbaulichen Reden begegnen wird.

Ein anderes Geheimnis seiner Schriftstellerkunst, das er als Kind bei seinem Vater gelernt hat, ist die Kunst der Dialektik:

»Mit einer allmächtigen Einbildungskraft verband der Vater eine unwiderstehliche Dialektik. Wenn da bei der einen oder anderen Gelegenheit der Vater sich in ein Wortgefecht mit einem andern einließ, so war Johannes ganz Ohr, und das um so mehr, als alles in einer beinahe feierlichen Ordnung vor sich ging […] Der Vater ließ den Widerpart jederzeit völlig ausreden, fragte ihn auch noch aus Vorsicht, ob er noch mehr zu sagen habe, eher er mit seiner Antwort begann. Johannes war dem Vortrage des Widerparts mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt, war auf seine Weise mit daran interessiert, wie es ausging. Die Pause trat ein, die Erwiderung des Vaters folgte, und sieh! Im Handumdrehen war alles anders. Wie das zuging, blieb für Johannes ein Rätsel; aber seine Seele vergnügte sich an diesem Schauspiel. Der Widerpart sprach zum andern Mal. Johannes war noch aufmerksamer, um alles richtig festzuhalten; der Widerpart wurde eindringlich. Johannes konnte beinahe sein |24| Herz klopfen hören, so ungeduldig wartete er, was da wohl geschehen werde. Es geschah; in einem Nu war alles umgekehrt, das Erklärliche unerklärlich gemacht, das Gewisse zweifelhaft, das Gegenteil einleuchtend. Wenn ein Hai seine Beute packen will, so muß er sich auf den Rücken herumwerfen, denn sein Rachen sitzt auf seiner Bauchseite; Er ist am Rücken dunkel, silberweiß unter dem Bauche. Es soll ein herrlicher Anblick sein, diesen Wechsel in der Farbe zu sehen: sie soll zuweilen so stark blinken, daß es dem Auge nahezu wehe tut, und doch macht es Freude, es anzuschauen […] Eines ähnlichen Wechsels Zeuge wurde Johannes, wenn er den Vater disputieren hörte. Er vergaß das Gesagte wieder, sowohl das, was der Vater als auch das, was der Widerpart gesagt hatte, aber dies Erschauern der Seele vergaß er nicht.«18

Mit der Kunst der Dialektik und der Kunst einer intensiv ausgebildeten Vorstellungsgabe war Kierkegaard ausgestattet, als er sich 1830 an der Universität Kopenhagen einschrieb, natürlich für Theologie, denn so hatte es ja sein Vater vorgesehen. Doch eben dieser Vorsehung des Vaters suchte sich der Sohn im Laufe seines Studiums mehr und mehr zu entziehen, zuerst in die Philosophie und in das kulturelle Leben seiner Zeit, dann in ein ausschweifendes, kostspieliges Studentenleben, dessen Unkosten der Vater dennoch bereitwillig bezahlte, schließlich in ein Langzeitstudium, das auch im 16. Semester noch lange kein Ende zu nehmen schien. Wonach er suchte, notiert der 22-jähriger Student in sein Tagebuch19, sei eine »Wahrheit für mich«, und nicht Wissensvermehrung, nicht Erkenntnisgewinn, die »für mich selbst und mein Leben keine tiefere Bedeutung« hätten. Schon hier deutet sich die Richtung an, die sich später in dem programmatischen Satz Kierkegaards verdichten wird: »Die Subjektivität ist die Wahrheit«.

Es sind dann aber doch zwei objektive Ereignisse im Jahr 1838, die dem Leben wie dem Studium Kierkegaards eine entscheidende Wende geben: Einmal stirbt im März sein geliebter Lehrer und Freund Poul Möller, der seinem Schüler vielleicht einen Lehrauftrag für Philosophie an der Universität hätte besorgen können. Wichtiger noch ist der Tod seines Vaters im August, was Kierkegaard mit den Zeilen im Tagebuch kommentiert:

»Mein Vater starb am Mittwoch, dem 8., nachts 2 Uhr. Ich hatte so innig gewünscht, daß er noch einige Jahre gelebt hätte, und ich sehe seinen Tod als das letzte Opfer an, |25| das er seiner Liebe zu mir brachte, denn er ist nicht von mir weggestorben, sondern für mich gestorben, damit womöglich noch etwas aus mir werden kann«.20

Mitten zwischen diesen beiden Todesdaten liegt ein Ereignis, das Kierkegaard in seinem Tagebuch nicht nur mit einem Datum, sondern sogar mit Uhrzeit versieht: 19. Mai, vormittags 10 ½ Uhr. Es wird die Stunde seiner »Bekehrung« genannt. Der Begriff scheint mir deshalb falsch gewählt, weil in »Bekehrung« ein aktives Moment des sich bekehrenden Menschen mitschwingt, der sich gleichsam mit einem Sprung in den Glauben versetzt hat. Die Tagebuchnotiz Kierkegaards klingt aber ganz anders. Sie ist eher Ausdruck einer Überwältigung, die mit ihm vor sich gegangen ist:

»Es gibt eine unbeschreibliche Freude, die uns ebenso unerklärbar durchglüht, wie des Apostels Ausbruch unbegründet hervorbricht: ›Freuet euch, und abermals sage ich: Freuet euch‹. Nicht eine Freude über dies oder jenes, sondern der Seele vollgültiger Ausruf ›mit Zung und Mund und aus Herzens Grund‹: ›ich freue mich an meiner Freude, aus, in, bei, an, durch und mit meiner Freude‹ – ein himmlischer Kehrreim, der gleichsam plötzlich unseren übrigen Gesang abschneidet; eine Freude, die gleich einem Windhauch kühlt und erfrischt, ein Stoß des Passats, der vom Hain Mamre zu den ewigen Hütten weht«.21

Die sich überschlagende Sprache zeigt an, dass es um das überwältigende Widerfahrnis einer »unbeschreiblichen Freude« geht, für die Kierkegaard kaum noch Worte findet, so dass er Anleihen bei Paulus in Phil 4,4 und Gen 18,1 machen muss, das Gleichnis eines Windhauches bzw. einen »Stoß des Passats« bemüht, um anzudeuten, dass er vom Heiligen Geist als einem Geist der Freude erfüllt worden ist. Das bringt ihn kurz darauf zu dem Entschluss: »Ich will mir Mühe geben, in ein weit innerlicheres Verhältnis zum Christentum zu kommen«.22 Bisher sei er eigentlich nur ein Simon von Kyrene im äußerlichen Kreuztragen Christi gewesen. Nun aber komme es ihm auf innerliche Nachfolge Jesu an.

Was also von innen her schon vorbereitet ist, wurde durch den Tod des Vaters zu einem festen Vorsatz, mit den ihm geschenkten väterlichen Gaben der Dialektik, der Rhetorik und der Einbildungskraft für ein »Christentum mit Leidenschaft« zu arbeiten. Umgehend begann er seine Examensvorbereitung, um die Theologische Staatsprüfung abzulegen und in ein Pfarramt einzutreten. Als Viertbester bestand er zwei Jahre darauf die Prüfung und begann |26| eine Magisterarbeit »Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates«, die er am 29.9.1841 vor der Universität erfolgreich verteidigte.

Regine Olsen

Kurz nach seiner Theologischen Staatsprüfung verlobte er sich mit der zehn Jahre jüngeren Regine Olsen, in die er sich seit drei Jahren mehr und mehr verliebt hatte. Es schien so, als ob nun bei Kierkegaard alles in geordnete Bahnen auf dem Weg zu einem Pfarramt kam. Auch die zukünftige Pfarrfrau schien gefunden. Doch es schien nur so, während in Wirklichkeit in dem Verlobten ein Konflikt ausbrach, der seine Anlage zur Schwermut erneut weckte und ihn in tiefe Ratlosigkeit stürzte: Einerseits sah er sich durch seine grenzenlose Liebe zu Regine und durch seine Vorstellung von einer radikalen Offenheit gegenüber seiner zukünftigen Ehefrau verpflichtet, ihr sein Inneres und seine ganze Familiengeschichte zu offenbaren; andererseits fühlte er sich außerstande, ihr den Fluch und die daraus resultierende Schwermut zu gestehen, von der er glaubte, dass sie über seinem Vater, über ihm selbst und der ganzen Familie liege. Diese Geliebte zu heiraten, das hieß für ihn, sie in den Abgrund einer verfluchten Familiengeschichte und einer Schwermut hineinzuziehen, von der Kierkegaard später in sein Tagebuch schreibt, dass sie gleichsam seine Schwester geworden sei. Entweder heiratet er Regine und macht sich schuldig an ihr, oder er heiratet sie nicht und macht sich schuldig an ihr, weil Verlobung in seinen Augen, aber auch vor den Augen der Gesellschaft Kopenhagens im 19. Jahrhundert, eine unbedingte Verpflichtung zur Heirat war. Regine spürte, dass mit ihrem Verlobten irgendetwas vor sich ging, was sie nicht einordnen konnte. Doch je mehr sie ihn mit Liebeserweisen überhäufte, desto ablehnender wurde er und gab ihr schließlich am 11.10.1841 den Verlobungsring zurück. Unter unsäglichen Schmerzen musste Kierkegaard lernen, dass ein Mensch entweder so oder so schuldig werden kann und dann unweigerlich mit Schuld leben muss. Das war sein Konflikt, den er nun, kaum dass er vierzehn Tage nach der Entlobung gen Berlin abgereist war, als einen grundsätzlichen Existenzkonflikt des Menschen wieder und wieder in seinen pseudonymen Schriften, in seinen erbaulichen Reden und natürlich auch in seinen Tagebüchern psychologisch, philosophisch und vor allem theologisch reflektierte.

|27| Ich breche an dieser Stelle mit meinen Annäherungen an Kierkegaards Leben ab, denn es ist erst einmal genug, um den biografischen Hintergrund eines Großteils seines Werks zu verstehen. Anderes folgt, wenn eine Reihe seiner erbaulichen Reden zumindest in Ausschnitten gelesen, mit Glauben und Denken Kierkegaards zusammengebracht und auf ihre möglichen Bezüge zur Gegenwart befragt worden sind.

Christian Möller

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Teil B

1 Der Streit des Gebets (1844)

A »Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – dadurch, daß Gott siegt«62

Mein Leser, hast Du nie mit einem Menschen gesprochen, der an Weisheit weit überlegen Dir doch wohlwollend war, ja mehr oder doch besser (und also mehr) um dein Wohl bekümmerter als du selber; hast du das nicht, nun so bedenke wohl, was dir oder mir begegnen könnte, wie ich es nun darstellen will.

[Streit mit einem Weisen – ein Gleichnis]

Sieh, am Anfang waren wir ganz uneinig; was der Weise sagte, kam mir wie eine sonderbare Rede vor; doch hatte ich das Vertrauen zu ihm, daß er seine Überlegenheit nicht missbrauchen würde, sondern sich überzeugen lasse und selbst mir zur Beseitigung des Missverständnisses behilflich wäre. So sprachen wir da miteinander und wechselten manches Wort im Streit der Rede. Der Weise muß die Übersicht vermutlich sich bewahrt haben, denn er blieb ruhig, während ich, ohne recht zu merken, wie und ohne mich darüber zu schämen, dabei fast heftig wurde, weil es mir so wichtig war, daß der Weise meine Ansicht teilen sollte, daß ich sie ohne die Einigkeit mit ihm nicht hätte festhalten dürfen – wohl aber ihn angreifen, um ihn zur Einigkeit zu bewegen. Und musste mich dies nicht auch heftig machen, denn das war ja ein Selbstwiderspruch, auf tückische Art durch meine Tüchtigkeit (als sei ich der Stärkere) den Weisen für meine Meinung gewinnen zu wollen, und dann erst recht wieder von der Richtigkeit der Meinung überzeugt zu sein im Vertrauen darauf, daß es die Meinung des Weisen sei, da er ja der Stärkere war; denn dies Vertrauen hatte ich doch beständig zu ihm, und die Einigkeit mit ihm war für mich das Entscheidende. Endlich, nachdem ich lange gleichsam unstet im Gespräch geschwankt, und öfter versucht und gelitten hatte, stand plötzlich so deutlich vor mir, was ich sagen wollte, daß ich in aller Kürze und im Besitz einer unerklärlichen Stärke meine Meinung kundtat, sicher darin, daß ich ihn überzeugen müsse. Und sieh, der Weise gab mir |46| recht und gab mir seine Zustimmung. Aber da er doch wohlwollend gegen mich war, und glaubte, ich könne die Erklärung ertragen, da drohte er mit dem Finger und sagte: was du nun meinst, ist ja gerade das, was ich zu Anfang sagte, da du mich nicht verstehen konntest und wolltest. Wohl erwachte nun die Beschämung in meiner Seele, so daß ich mich über mein früheres Benehmen schämte, aber sie raubte mir doch nicht den Freimut, mich über die verstandene Wahrheit zu freuen, wenn ich auch weit entfernt war, den Weisen überwunden zu haben, da ich nur selbst durch den Streit überzeugt und gestärkt worden war. Wie erstaunlich! Aber es war doch ein Glück, daß ich nicht einen anderen Weg einschlug, nicht hitzig wurde, den Streit nicht abbrach, nicht den Weisen beschimpfte, als sei er mein Feind, weil er mir nicht nachgeben wollte, in hohen Tönen über seine Eigenliebe schrie, weil er mir nicht recht geben, sondern dagegen mich besser lieben wollte, als ich selbst verstand. Und die Beschämung befreite mich davon, was ich vielleicht sonst getan, wenn ich den Streit abgebrochen und später selbst das Wahre eingesehen hätte, daß ich weiter den Weisen als meinen Feind betrachtete, ungeachtet dessen, was er gerade gesagt hatte; daß ich sogar ihn hätte kränken wollen durch den trotzigen Hinweis, ich hätte die Wahrheit ohne ihn verstanden, und ihm zum Trotze, obgleich er mir grade helfen wollte, durch mich selbst das Wahre zu sehen, und obwohl er als einziger mich daran hätte hindern können, indem er Ja sagte und dadurch von meinen Kränkungen sich freigekauft und meine Dankbarkeit sich erkauft hätte.

So mit dem Streitenden, wenn er nicht die Innerlichkeit aufgibt, welche die Bedingung dafür ist, daß man wirklich sagen könne, er streite im Gebet. Sage nicht, mein Leser, das sei eine fromme Einbildung, berufe dich nicht auf die Erfahrung, es gehe so im Leben nicht zu; denn das ist ja gleichgültig, wenn es doch so zugehen kann, und du nötigst mich nur, dir recht zu geben, zu sagen, es gehe im Leben wohl anders zu, weil es nämlich so zugeht, daß die Menschen lau und kalt und gleichgültig werden, so daß sie weder das erste noch das letzte spüren, und vergessen, so daß sie nicht mehr daran denken, wie es am Anfang war, wenn sie an den Schluß gekommen sind, und tückisch und launisch und frech sind, so daß sie Gott anklagen, daß er ihnen nicht helfe, und Gott trotzen, daß sie sich selber helfen könnten, wobei das erste eine ewige Lüge ist und das letzte, wenn überhaupt, Wahrheit darin stecken soll, der Mensch allein von Gott gelernt haben kann.

[Sich innerlich in Gott hineinarbeiten]

Wer aber die Innerlichkeit nicht aufgibt, durch seinen Streit sich nicht aus dem Gottesverhältnis hinausstreitet, sondern sich in Gott hineinarbeitet, dem geht es so, wie es erklärt wurde, indem die Gottinnigkeit des Gebetes zu einer Hauptsache wird und nicht ein Mittel zur Erreichung einer Absicht. Oder sollte es so wesentlich zum Gebet gehören, daß man um etwas betet, so daß das Gebet desto innerlicher wird, je mehr man zu erbitten habe, oder doch je weitschweifender man in Worten sei; sollte der |47| nicht ein Beter, ja, der rechte Beter sein, der sagte: Herr, mein Gott, ich habe eigentlich gar nichts dich zu bitten; würdest du auch die Erfüllung aller Wünsche mir geloben, ich könnte doch eigentlich gar keinen anführen, nur daß ich bei dir bleiben darf, so nahe wie es in dieser Zeit der Trennung möglich ist, in der du lebst und ich, und ganz bei dir in alle Ewigkeit? Und so weit der Beter seinen Blick zum Himmel wendet, sollte der dann der Beter sein, oder der rechte Beter, dessen unruhige Augen beständig Trost für die einzelne Sorge, einige Erfüllung für den einzelnen Wunsch holten; und nicht eher der, dessen ruhige Augen nur Gott suchten? Dazu muß es auch kommen, wenn die Innerlichkeit nicht aufgegeben, sondern unverändert bewahrt und als ein heiliges Feuer im Menschen bewacht wird; denn der Wunsch, die irdische Begierde, der weltliche Kummer ist das Zeitliche, stirbt gewöhnlich vor dem Menschen, auch wenn er das Ewige nicht ergreift, wie sollte er da das Ewige aushalten können! Da verliert der Wunsch mehr und mehr an Glut, zuletzt ist seine Zeit vorbei, da stirbt der Wurm der Begierde nach und nach, und die Begierde stirbt aus, da schlummert die Wachheit des Kummers nach und nach ein, um nie wieder zu erwachen, aber die Zeit der Innerlichkeit ist nie vorbei.

Wer hat nun gesiegt? Das hat Gott, dem der Beter durch seine Gebete die Erfüllung nicht abnötigen konnte. Aber der Beter hat ja auch gesiegt. Oder heißt das siegen, daß man recht bekommt, wenn man unrecht hat, daß man die Erfüllung eines irdischen Wunsches erhält als sei dies das höchste, einen Beweis dafür, daß man zu Gott gebetet und recht gebetet habe, einen Beweis dafür, daß Gott Liebe war, und der Betende im Einverständnis mit ihm, daß der Beter vielmehr für sein ganzes Leben dem zu Dank verpflichtet war, den er durch sein Gebet und durch seinen Dank selber zu einem Abgott machte.

[Wer wurde durch das Gebet verändert: Gott, der Beter oder beide?]

Welches ist nun der Sieg, worin unterscheidet sich der Zustand der Sieger von dem der Streiter? Wurde Gott verändert? Eine bejahende Antwort scheint eine schwierige Rede, und doch ist es so, er wurde verändert; denn nun hat sich gerade gezeigt, daß Gott unveränderlich ist. Doch ist jene Unveränderlichkeit nicht jene eisige Gleichgültigkeit, jene tödliche Erhabenheit, jene zweideutige Ferne, die der verhärtete Verstand anpries, nein, im Gegenteil, diese Unveränderlichkeit ist innerlich und warm und überall anwesend, ist eine Unveränderlichkeit in der Sorge um einen Menschen, und gerade darum lässt sie sich durch den Schrei des Beters nicht verändern, als sei nun alles vorbei, durch seine Feigheit, wenn er es unbequem findet, sich selbst helfen zu können, durch seine falsche Zerknirschung, die ihm doch bald leidtut, wenn die augenblickliche Angst vor der Gefahr vorüber ist.

Wurde der Beter verändert? Ja, das ist nicht schwer einzusehen; denn er ist der rechte Beter geworden, und der rechte Beter siegt immer, da dies ein und dasselbe ist. Auf unvollkommene Weise war er schon davon überzeugt, denn während er genug |48|63