Theologische Studien NF 3 – 2011

Benjamin Schliesser


Was ist Glaube?
Paulinische Perspektiven

Meinen Eltern

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Inhaltsverzeichnis

1. Was ist Glaube?*

Einführung

Systematisch-theologische Einordnung

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

2. Glaube als Identitätskriterium einer Gemeinschaft

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

3. Glaube als »göttliche Geschehenswirklichkeit«

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

4. Glaube und Vernunft

Glaube als Fürwahrhalten und Überzeugtsein

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

Glaube als Wissen und Bekennen

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

5. Glaube und Wille

Glaube als Entscheidung und Gehorsam

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

Glaube als »neuer Gehorsam« und Liebe

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

6. Glaube und Gefühl

Glaube als »mystisches« Erleben

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

Glaube als Vertrauen und Gewissheit

Forschungsgeschichte

Exegese

Verstehenshorizont

Schlussreflexion

Literaturverzeichnis

Fußnoten

Seitenverzeichnis

|9| 1. Was ist Glaube?*

Einführung

Man kann »im Neuen Testament geradezu von einer Entdeckung des Glaubens sprechen. Keine andere jüdische oder hellenistische Schrift vor oder nach dem Neuen Testament verwendet das Wortfeld ›glauben‹ auch nur annähernd so häufig. In diesem Buch trat das Wortfeld des Glaubens in den Mittelpunkt, weil offenbar das Phänomen des Glaubens auf eine vorher nicht da gewesene Art entdeckt worden war.«1 So der Zürcher Neutestamentler Hans Weder in seinem Vortrag »Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament« vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Man kann sogar zu Recht von einer »explosionsartigen Steigerung«2 des Redens vom Glauben im Neuen Testament sprechen. Verb (pisteuein) und Nomen (pistis) begegnen je 243-mal.3 Diese statistische Häufung ist beachtlich, und wenn sie auch per se noch keine theologische Aussagekraft besitzt, ist sie doch Indiz dafür, dass »Glaube« »im Neuen Testament, und zwar in allen seinen Schichten, […] zum schlechthin zentralen Begriff«4 und »zur beherrschenden Bezeichnung«5 des Verhältnisses des Menschen zu Gott geworden ist. Gerhard Ebeling stellt fest: »Würde man aus dem neutestamentlichen Gesamtvokabular diejenigen Wörter zusammenstellen, die trotz des von Schrift zu Schrift wechselnden Sprachbefundes allen Schichten des neutestamentlichen Schrifttums als tragende Begriffe angehören, so würde dabei pisteuein usw. mit an erster Stelle stehen.«6

Auch die Briefe des Paulus fügen sich in diesen Befund ein, nur dass bei ihm das Übergewicht des Nomens sogleich ins Auge fällt: Das Verbum pisteuein |10| verwendet er 42-mal, das Nomen pistis dagegen 91-mal.7 Die Exegese einer Auswahl der pistis/pisteuein-Belege wird zeigen, dass Paulus damit eine wichtige – wenn nicht sogar »die wichtigste«8 – theologische Aussage machte und dass er den Begriff pistis »in den Mittelpunkt der Theologie« stellte.9

Die überragende Bedeutung, die dem Glaubensbegriff in der Geschichte des Christentums zukommt, führt dazu, dass er »überfrachtet« zu werden droht, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen besteht aus linguistischer Perspektive die Gefahr, dass ein unsachgemäßer »Totalitätstransfer«10 vollzogen wird, bei dem die Bedeutungsvielfalt eines Wortes auf die einzelnen Belegstellen übertragen wird. Um den »Glaubensbegriff« des Paulus zu bestimmen, werden – vereinfacht gesagt – die einzelnen Aspekte und Nuancen des Wortes pistis gesammelt und in einem zweiten Schritt wieder auf alle Belege aufgeladen. Das heißt nun nicht, dass im Gegenzug lediglich verschiedene Bedeutungen aneinanderzureihen sind; vielmehr sollen die einzelnen Stellen in ihrem jeweiligen Kontext gehört und ihre Aussageabsicht herausgearbeitet werden.

Ein zweiter Hinweis ist im Blick auf die Bedeutungsgeschichte des Glaubens angebracht. Die Tatsache, dass die Texte des Paulus die Geschichte der westlichen Kultur und Sprache entscheidend geprägt haben, kann dazu verleiten, die verschiedenen Stationen der semantischen Geschichte des Glaubens auf die Belege bei Paulus zu übertragen. Der heutige, religiös-kirchlich geläufige Begriff des Glaubens, der ja Teil der paulinischen Wirkungsgeschichte ist, gleicht »einem Esel, dem man einen Möbelwagen aufgeladen hat und noch immer wieder auflädt. […] ›Glaube‹ wurde identisch mit ›Christentum‹, ja mit ›Religion‹ überhaupt.«11 Hinzu kommen alltagssprachlich vertraute Verwendungsweisen und Vorverständnisse von »glauben«, durch welche die Umrisse des Bedeutungsfeldes im Laufe der Zeit immer verschwommener und durchlässiger wurden. Diese finden in den folgenden sprachlichen Wendungen ihren Ausdruck12:|11|

Um ein sachgemäßes Verständnis vom Glaubensbegriff des Paulus zu gewinnen, kann man nicht von den religiös und alltagssprachlich geläufigen Verwendungstypen ausgehen. Die Fragen »Was heißt Glaube?« und »Was heißt Glaube bei Paulus?« sind methodisch auseinanderzuhalten. Und dennoch gehören beide Fragen zusammen, eben weil die Glaubenstexte des Völkerapostels mit dem Glaubensverständnis und der Glaubensgeschichte unserer Kultur aufs Engste verknüpft sind, ja »zur Grundinformation der menschlichen Geschichte« gehören.13

Die Geschichte (der Erforschung) des Glaubensbegriffes hat nun aber neben einer Überfrachtung auch eine unpaulinische Reduktion auf eine subjektive Haltung bzw. individuelle Disposition zur Folge gehabt. Daher wird (in Kapitel 2) die soziologische bzw. ekklesiologische Dimension als eine erste grundlegende Perspektive auf die paulinische Auffassung vom Glauben hervorgehoben: Glaube ist konstitutiv für die christliche Identität und Kriterium für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde.

Mit der Betonung der überindividuellen Dimension der paulinischen Rede vom Glauben kommt (in Kapitel 3) eine weitere und bislang in der Exegese recht wenig beachtete Perspektive in den Blick. Pistis ist bei Paulus auch eine von außen hereinbrechende und durch die Christusepiphanie begründete »göttliche Geschehenswirklichkeit«. Dieses Kapitel löst zugleich die wichtige Forderung ein, »methodisch von der christologisch-heilsgesch[ichtlichen] Dimension des G[laubens] auszugehen und erst dann dessen immer soteriologisch orientierte anthropologische Aspekte thematisch zu machen«.14

Das Ineinander von christologisch-heilsgeschichtlicher und anthropologischer Betrachtungsweise bleibt auch in den folgenden Argumentationsgängen (Kapitel 4–6) zentral, in welchen die paulinische Perspektive auf die Subjektivität des Glaubens zu erörtern ist. Wenn – wie auch hier vorausgesetzt wird – der Glaube »daseinsbestimmende Bedeutung für den Menschen hat […], so stellt sich die Frage, wie solcher […] Glaube anthropologisch zu verorten ist.«15 Es bietet sich an, für diese Frage der Anthropologie bzw. der Subjektivität des Glaubens die geläufige Dreigliedrigkeit der platonischen Seelenlehre zugrunde zu legen, die seit Kant und Schleiermacher weithin anerkannt |12| ist und davon ausgeht, dass im Menschen drei Fähigkeiten oder Antriebskräfte zusammenwirken: Vernunft, Wille und Gefühl. Mag sich Paulus auch an keiner Stelle explizit über das Verhältnis der menschlichen Seelenvermögen zum Glauben geäußert haben, so kann er dennoch als Urheber einer kulturell wie religiös äußerst bedeutsamen und vielfältigen Wirkungsgeschichte gelten. Wie kein anderes literarisches Erzeugnis haben seine Briefe die Auseinandersetzung mit den Problemkreisen »Glaube und Vernunft«, »Glaube und Wille« und »Glaube und Gefühl« hervorgerufen und geformt. Aus diesem Grund ist diesen drei Komplexen jeweils eine Exposition der Fragestellung in systematisch-theologischer Absicht vorangestellt. Freilich wird schnell deutlich, dass sich Paulus’ Rede vom Glauben gegen klare Abgrenzungen sträubt: Der Glaube geht in keiner der menschlichen Erkenntnisweisen auf; er findet nicht »getrennte Haushalte« im Innern des Menschen vor, sondern durchdringt Vernunft, Wille und Gefühl. Und er ist nicht als Summe der drei Erkenntnisweisen zureichend zu bestimmen, sondern weist aufgrund seines Offenbarungscharakters wesenhaft über diese hinaus.

Innerhalb der anthropologischen Betrachtungsweise des Glaubens verdient der Aspekt Beachtung, dass Glaube nicht aus sich selbst heraus existieren kann, sondern auf ein Gegenüber außerhalb seiner selbst angewiesen ist, das ihn begründet und erhält. Noch mehr: Der Glaube setzt das Individuum aus sich selbst heraus und schafft ein neues Beziehungsgefüge: »Nicht der Glaube gehört zum christlichen Individuum, sondern das christliche Individuum gehört zum Glauben.«16 Insofern ist dem Glaubensvorgang gar eine »ekstatische[ ] Struktur« eigen.17 Doch darf der externe und »ekstatische« Charakter des Glaubens wiederum nicht so verstanden werden, als sei er »seelenlos«; die Frage nach seinem Ort und Halt im Innenleben des Menschen – in seinem Denken, seinem Willen, seinem Gefühl – behält seine Berechtigung.

Der Begriff »Glaube« nimmt eine Reihe von einzelnen Bedeutungskomponenten in sich auf, die den menschlichen Seelenvermögen im Sinne einer ersten Annäherung zugeordnet werden können: »Glaube als Fürwahrhalten und Überzeugtsein«, »Glaube als Wissen und Bekennen« (Vernunft), »Glaube als Entscheidung und Gehorsam«, »Glaube als ›neuer Gehorsam‹ und Liebe« (Wille), »Glaube als ›mystisches‹ Erleben«, »Glaube als Vertrauen und Gewissheit« (Gefühl). Da zwischen diesen einzelnen Dimensionen ein innerer Zusammenhang besteht, lässt sich mitunter nicht klar abgrenzen, welche von ihnen den Ton trägt.

|13| Systematisch-theologische Einordnung

Zur Frage, wie sich eine exegetische Untersuchung zur systematischen Theologie verhalte, bemerkte Adolf Schlatter (1852–1938) lapidar: »Einer Geschichte der neutestamentlichen Begriffe, welche dieselben nur statistisch benennt und chronologisch einordnet, fehlt der Kopf.« Wahrnehmung des Tatbestandes und begriffliche Durchdringung sind im »reellen Erkennen […] nicht durch eine Scheidewand getrennt, sondern bedingen sich gegenseitig und kommen nur in und mit einander zur Vollendung«.18 Anders ausgedrückt gibt es zwei Versuchungen der Exegese: »de[n] Rückzug in die rein historische Arbeit und die Flucht in die Systematik«.19 Daher sollen in der vorliegenden exegetischen Studie die sich eröffnenden Problemhorizonte knapp in ihrem systematisch-theologischen Zusammenhang eingeordnet und bewertet werden. In der systematisch-theologischen Diskussion kann aus der Fülle der theologischen (und religionsphilosophischen) Literatur lediglich eine Auswahl von (älteren und neueren) Denkansätzen einbezogen werden. Exemplarisch seien als Gesprächspartner genannt: Augustin (354–430), Martin Luther (1483–1546), Johannes Calvin (1509–1564), Friedrich Schleiermacher (1768–1834), Martin Buber (1878–1965) und Karl Barth (1886–1968). Von den neueren Entwürfen finden insbesondere die von Gerhard Ebeling (1912–2001), Wolfhart Pannenberg (*1928), Eberhard Jüngel (*1934) und Wilfried Härle (*1941) Berücksichtigung.

Die Klärung des Glaubensbegriffs ist und bleibt eine Herausforderung für die christliche Theologie und ein Thema im ökumenischen Gespräch. »Unterschiedliche Formen von Frömmigkeit scheinen verschiedenen Glaubensweisen zu entsprechen, und verschiedene Theologietypen entwickelten unterschiedliche Auffassungen vom Glauben.«20 Bedenkenswert ist dabei die Einschätzung eines theologischen Arbeitskreises, »dass der Begriff des Glaubens noch nicht zu derjenigen Klarheit ausgearbeitet ist, die angesichts seiner schlechterdings fundierenden Stellung und Funktion erforderlich ist.«21

Deutlich wurde das Ringen um Klarheit im Kontext der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre« des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche. Die dem Konsensdokument vorausgehende fast fünf Jahrhunderte andauernde Kontroverse über die Rechtfertigung kreiste um die Auslegung von Paulusstellen wie Röm 3,28: »Denn wir halten fest: Gerecht |14| wird ein Mensch durch den Glauben, unabhängig von den Taten, die das Gesetz fordert.«22 Luther fügte bekanntermaßen das Wort »allein« hinzu: Der Mensch wird gerecht »allein durch Glauben«. Dass Luther daraus keineswegs den Schluss zog, dass die Glaubenden ohne Gehorsam und ohne gute Werke selig werden, zeigt in aller Deutlichkeit ein früher Brief an seinen engen Freund Georg Spalatin aus dem Jahr 1516: »Denn wir werden nicht, wie Aristoteles meint, dadurch gerecht, dass wir das Rechte tun, es sei denn auf heuchlerische Weise, sondern dadurch, dass wir […] Gerechte werden und sind, tun wir das Rechte. Zuerst ist es notwendig, dass die Person geändert wird, dann [folgen] die Werke.«23 Die gleichen Gedanken veröffentlichte er auch in seinem »Sermon von den guten Werken« und in der Programmschrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (1520).

In der damaligen Auseinandersetzung wurde diese Position allerdings nicht verstanden, und noch Jahrzehnte später verwarf man die Formel »allein durch Glauben«. Glaube ist nach Meinung der Väter des Trienter Konzils die Zustimmung zur Lehre der Kirche (Denzinger/Schönmetzer, Nr. 1526) und steht als »Fundament und Wurzel« (fundamentum et radix) am Beginn der Rechtfertigung (DS 1532). Ohne Hoffnung und Liebe ist er allerdings defizitär und führt nicht zu einer völligen Vereinigung mit Christus (DS 1531). Erst durch die Taufe erfolgt die eigentliche Rechtfertigung (DS 1528f.). Vor diesem Hintergrund erst kann der Fortschritt des Dialogs historisch und theologisch angemessen gewürdigt werden. Die Gemeinsame Erklärung kommt nämlich zum die beiden Konfessionen verbindenden Bekenntnis, »dass der Sünder durch den Glauben an das Heilshandeln Gottes in Christus gerechtfertigt wird«; Glaube wird hier verstanden als das Vertrauen »auf Gottes gnädige Verheißung«. Dieser vertrauende Glaube bedarf keiner Ergänzung, denn »alles, was im Menschen dem freien Geschenk des Glaubens vorausgeht und nachfolgt, ist nicht Grund der Rechtfertigung und verdient sie nicht« (GE 25). Die Beurteilung der Konsensformel zur »Rechtfertigung durch Glauben und aus Gnade« klafft auseinander: Anerkennen die einen »ein bemerkenswert hohes Maß an Übereinstimmung«24 und (trotz des fehlenden Stichworts »allein«) eine sachliche Übereinstimmung mit dem reformatorischen sola fide,25 notieren andere gravierende Differenzen zwischen dem lutherischen und katholischen Glaubensverständnis.26

|15| Es ist wichtig zu sehen, dass die mühsam erarbeiteten ökumenischen Erträge der »lehramtlichen Instanzen« maßgeblich auf akademischer Ebene vorbereitet wurden, wo seit dem Zweiten Vatikanum die methodischen Differenzen zwischen katholischer und evangelischer Exegese weithin nivelliert sind. Im Fall von Röm 3,28 betonen katholische Exegeten fast einhellig, dass das ganze Gewicht des Satzes auf dem Ausdruck »durch den Glauben« liege;27 »die deutsche Übersetzung ›allein durch den Glauben‹ ist ganz exakt im Sinne des Paulus.«28

Forschungsgeschichte

Wenn unter den jeweiligen Dimensionen des Glaubens zunächst einige theologie- und forschungsgeschichtliche Perspektiven anzeigt werden,29 hat dies zweierlei Gründe:

Zum einen erweist sich darin die Kontingenz jeglichen exegetischen Arbeitens, die individuelle Abhängigkeit von übergeordneten Notwendigkeiten. Ebenso wie Albert Schweitzers berühmte Untersuchung zum »Leben Jesu« zeigte, dass sich die Entwürfe der Jesus-Bilder vornehmlich aus Projektionen von Idealen des jeweiligen zeitgeschichtlichen und kulturellen Kontextes und der jeweiligen Forscherpersönlichkeit zusammensetzen, so drängt sich analog beim paulinischen Glaubensverständnis der Eindruck auf, dass auch hier die geistige Atmosphäre einer Epoche und die individuelle Frömmigkeit die Exegese der paulinischen Stellen zum Glauben prägt. Positiv gewendet könnte man sagen, dass jeder Entwurf für sich ein Spezifikum der paulinischen pistis einschärft und darin eine particula veri formuliert.

Das solchermaßen ideologiekritische Interesse der forschungsgeschichtlichen Einordnung wird ergänzt durch eine erkenntnistheoretische Absicht: In der Mehrzahl der Forschungspositionen kommt explizit oder implizit die spezifische Fragestruktur in den Blick, die der Frage nach dem Wesen des Glaubens innewohnt. Sie gehört in den Umkreis derjenigen Fragen, die den Menschen in seinem Menschsein selbst angehen. Man könnte sagen, dass sich in dieser Frage die individuelle Abhängigkeit von übergeordneten Bedürfnissen ausdrückt und dass zum Einblick in diese Frage nicht bloß Wissensdurst |16| oder historisches Interesse, sondern »ein bestimmter Einsatz von mir gefordert ist, wenn ich mich auf sie einlasse«30.

Blickt man auf die Anfänge der historischen Erforschung des paulinischen Glaubensbegriffs, sind die Arbeiten zweier Exegeten maßgeblich und wegweisend: Adolf Schlatters Monographie »Der Glaube im Neuen Testament« und Rudolf Bultmanns Artikel im »Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament« (1955). Im Jahr 1882 ging dem Berner Privatdozenten Adolf Schlatter die Mitteilung der Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion zu, dass sie einen Preis für eine Abhandlung zum Thema »Glaube und Glauben im Neuen Testament« ausgeschrieben habe. Im Rückblick erinnert sich Schlatter, er habe diese Nachricht mit dem Gedanken gelesen, »auf die hier gestellte Frage dürfe nicht der Schein fallen, dass sie unbeantwortbar sei; eine Theologie und Christenheit, die nicht mehr wisse, was das Neue Testament Glaube nenne, wäre tot«.31 Die sodann mit dem ersten Preis ausgezeichnete Arbeit erfuhr insgesamt sechs Auflagen und prägt die exegetische Diskussion bis heute – »angesichts der Kurzlebigkeit theologischer Produktion eine erstaunliche Sache«32. Man kann der Einschätzung Peter Stuhlmachers durchaus zustimmen, dass Schlatters Untersuchung in ihrer »systematischen Geschlossenheit und historischen Präzision […] bis heute unübertroffen« ist.33

Einzig Rudolf Bultmanns Darstellung des neutestamentlichen Glaubensbegriffs kann sich mit der Schlatters »im Niveau der Argumentation und der Treffsicherheit der Formulierung« messen.34 Bultmann hat sich vornehmlich in seiner »Theologie des Neuen Testaments« (1948–1955) und im erwähnten Wörterbuchartikel (1955), aber auch in zahlreichen Aufsätzen mit dem Thema »Glauben« auseinandergesetzt. Seine knappen und in schlichter Sprache abgefassten, aber keineswegs einfach zu verstehenden Ausführungen weisen bemerkenswerte und überraschende inhaltliche Analogien zu Schlatters Erstlingswerk auf.

|17| Exegese

Abgesehen von der punktuellen Belebung des Glaubensdiskurses in der ökumenischen Auseinandersetzung fällt auf, dass der Glaube trotz seiner Bedeutung v. a. bei Paulus auch in der neutestamentlichen Exegese ein Schattendasein führt. Neuere Veröffentlichungen zum Thema sind Mangelware – sieht man von einigen breit diskutierten Spezialfragen ab35; auch in Gesamtdarstellungen der paulinischen Theologie wird der Glaube meist als Nebenthema unter der Rubrik »Rechtfertigung« verhandelt.

Dabei gäbe es zu Rhetorik, Theologie und Sinngeschichte der pistis bei Paulus einiges zu sagen. Er war sich der inneren Beweglichkeit und des Schillerns des Begriffs bewusst und machte sie seiner Absicht zunutze. Wie im gegenwärtigen ist auch im antiken Sprachgebrauch der Ausdruck keineswegs so eindeutig, wie man es oft annimmt. Das Spektrum der pistis reicht von der Bedeutung »Treue« (Röm 3,3: »Treue Gottes«36; Gal 5,22) bis hin zur Verwendung im Sinne eines umfassenden Äquivalents für die christliche Bewegung (Gal 1,23). An weiteren Stellen liegt kein unmittelbar religiöser Sinn vor, wie in Röm 14,2.22 (»überzeugt sein«/»Überzeugung«) oder 1Kor 13,7 (die Liebe »glaubt alles«). Nennenswert sind auch die zahlreichen paulinischen Wendungen, in denen pistis (zumeist als Genitiv) begegnet und die seinen Leserinnen und Lesern schon viel Kopfzerbrechen bereitet haben: »Glaubensgehorsam« (Röm 1,5; 16,26), »Glaubensgesetz« (Röm 3,27), »Glaubensgerechtigkeit« (Röm 4,11), »Glaubensanalogie« (Röm 12,3), »Glaubenswort« (Röm 10,8), »Glaubensverkündigung« (Gal 3,2.5), »Geist des Glaubens« (2Kor 4,13), »Christusglaube« (Röm 3,22.26; Gal 2,16.20; 3,22; Phil 3,9) und »aus Glauben zu Glauben« (Röm 1,17). Von beträchtlicher kirchengeschichtlicher und systematisch-theologischer Relevanz sind, wie bereits angedeutet, die paulinischen Perspektiven auf den Ort des Glaubens im Menschen, auf Wesen und Weisen des Glaubens, auf sein Gegenüber, auf seine Konstitutionsbedingungen, auf seine Verhältnisbestimmungen zu Christus, zum Wort bzw. zur Verkündigung, zu Gesetz und Werken, zur Rechtfertigung.

Rudolf Bultmann spricht zu Recht von zwei verschiedenen Perspektiven, die man bei der Analyse des Glaubens beachten muss: »Es ist zu unterscheiden, ob man vom menschlichen Gesichtspunkt oder vom Gesichtspunkt des Glaubens über die pistis Aussagen macht. Vom Menschen her gesehen ist der |18| Glaube ein Akt des Willens, eine Entscheidung, die Annahme der Einladung Gottes. Vom Gesichtspunkt des Glaubens aus ist der Glaube ein Geschenk Gottes.«37 Wenngleich man sich mit seiner ausschließlichen Verortung des Glaubens im Bereich des Willens nicht zufriedengeben kann, so lenkt er die Aufmerksamkeit doch auf eine notwendige Unterscheidung. Je nach Perspektive kommt man zu voneinander abweichenden Aussagen.

Stellt man sich auf den anthropologischen Standpunkt, dann erscheint der Glaube als eine Erkenntnisweise oder Bewusstseinsprägung mit unterschiedlicher inhaltlicher Füllung. Adolf Schlatter formuliert in der Einleitung seiner Monographie: »Glaube ist ein inneres Geschehn« und kann als solches »vom übrigen seelischen Geschehen abgegrenzt und fixiert werden.«38 Die Frage, ob bzw. wie sich das Glaubensgeschehen von den (anderen) seelischen Vorgängen abhebt oder ob es in (einem von) ihnen aufgeht, wird verschieden beantwortet.

Wie schon ihr Aufbau nahelegt, überprüft die vorliegende Studie anhand der Paulustexte folgende Aussage: »Der anthropologische Ort des Glaubens kann also nicht in einem der Seelenvermögen, sondern nur in deren Gesamtzusammenhang gesucht werden. D. h., als anthropologischer Ort des Glaubens kommt nur die Dreiheit von Gefühl, Vernunft und Wille in ihrer gegenseitigen Durchdringung und in der damit gegebenen (zirkulären) Einheit in Frage.«39 Die Gefahr dieses Zugangs liegt freilich in einer psychologisierenden, intellektualisierenden oder voluntativen Engführung des Glaubensbegriffes – also darin, dass es zu einem anthropologischen »Missverständnis« kommt.40 Davor warnt auch Gerhard Ebeling, wenn er feststellt: »Der Glaube betrifft viel radikaler den Menschen, als dass er, wie man es bei jener schlechten Psychologisierung des Glaubens meint, seinen Ort hätte in irgendwelchen partiellen und sekundären Schichten seines Wesens, in irgendwelchen Fähigkeiten des Menschen wie Erkenntnisvermögen oder Wille oder Gefühl.«41

Diesem Missverständnis kann man begegnen, indem man den Glauben vom »Standpunkt des Glaubens« und damit vom Christusgeschehen her denkt. Aus einer solchen Betrachtungsweise sind dezidiert theologische Aussagen zu erwarten wie: »Der Glaube hat keine Geschichte, wohl aber bestimmt er Geschichte.«42 |19| Oder in den drastischen Worten Johann Georg Hamanns: »Glaube ist nicht jedermanns Ding, und auch nicht communicable wie eine Ware, sondern das Himmelreich und die Hölle in uns.«43 Dieser Ansatz birgt die Gefahr, den Glauben der Wirklichkeit und der Welt zu entheben und ihn abzukoppeln von erkenntnistheoretischen, hermeneutischen oder humanwissenschaftlichen Annäherungen. Das Gespräch über den Glauben wird so zum Binnendiskurs aus der Theologie für die Theologie und geht Gesprächspartnern aus anderen Diskursen verlustig.

Es kann nicht sinnvoll sein, die Betrachtung des Glaubens auf einen der beiden Standpunkte zu reduzieren. Der Glaube ist eine anthropologische Kategorie, geht in dieser Bestimmung aber keineswegs auf. Er ist nicht jenseits von allgemein-menschlichen Konstanten zu beschreiben, aber zugleich markiert er einen qualitativen Sprung, der wie im Fall des Paulus zu einer »rigorosen Umwertung aller bisherigen Werte und Ideale (Phil 3,7–11)« führen kann.44 Es wird sich zeigen, dass auch Paulus in seiner Rede vom Glauben immer zugleich vom Menschen und von Gott her denkt.

Bultmanns existentiale Interpretation richtet sich ganz auf das gläubige Subjekt und räumt der Welt- und Heilsgeschichte lediglich eine Randstellung ein: »Die entscheidende Geschichte ist nicht die Weltgeschichte, die Geschichte Israels und der anderen Völker, sondern die Geschichte, die jeder Einzelne selbst erfährt.«45 Damit ist aber, was die pistis angeht, »eine radikale Individualisierung gesetzt: Die Botschaft trifft den Einzelnen und isoliert ihn.« »Der Glaube führt in die Vereinzelung.«46 Diese Linie kann bis in die autobiographischen »Bekenntnisse« Augustins zurückverfolgt werden, welcher Gott preist für »meinen Glauben, den du mir gegeben hast«.47 Im Gegensatz dazu stehen beispielsweise die Erwägungen Karl Barths zum Individualismus eines solchen »Ich-Glaubens.« Er kritisiert, »dass der Christ in den letzten Jahrhunderten (auf dem weiten Weg vom alten Pietismus bis hin zu dem an Kierkegaard sich inspirierenden theologischen Existentialismus der Gegenwart) begonnen hat, sich selbst in einer Weise ernst zu nehmen, die dem Ernst des Christentums durchaus nicht angemessen ist«.48 Schon früh zeichnete sich der Dissens zwischen Bultmann und Barth in dieser Frage ab. In seinem Römerbriefkommentar schreibt Barth: »Nirgends ist er [sc. der |20| Glaube] identisch mit der historischen und psychologischen Anschaulichkeit des religiösen Erlebnisses. Nirgends reiht er sich ein in die kontinuierliche Entwicklung menschlichen Seins, Habens und Tuns.«49 Bultmann entgegnet, dass Barth die Paradoxie des Glaubens überspanne: »Ist der Glaube, wenn er von jedem seelischen Vorgang geschieden, wenn er jenseits des Bewusstseins ist, überhaupt noch etwas Wirkliches? Ist nicht das ganze Reden von diesem Glauben eine Spekulation, und zwar eine absurde? Was soll das Reden von meinem ›Ich‹, das nie mein Ich ist? Was soll dieser Glaube, von dem ich höchstens glauben kann, dass ich ihn habe?«50

Ein erster exegetischer Ansatz, diesen scheinbar unvereinbaren Positionen zu begegnen, liegt darin, den Blick auf einige sprachliche Besonderheiten in Paulus’ Rede vom Glauben zu lenken. Ernst Lohmeyer stellt zu Recht fest, dass »ein merkwürdiger Sprachgebrauch […] die paulinischen Gedanken über den Glauben« kennzeichnet.51 Zunächst sticht die Dominanz des Substantivs »Glaube« gegenüber dem Verb »glauben« heraus. Sodann fällt auf, dass das Nomen »Glaube« meist absolut bzw. in Verbindung mit »Christus« steht und recht selten mit Possessivpronomen erscheint: »sein Glaube« findet sich nur in Bezug auf Abraham (Röm 4,5.12.16), einmal äußert Paulus den Wunsch, »in eurer Mitte gemeinsam mit euch ermutigt zu werden durch unseren gemeinsamen Glauben, den euren wie den meinen« (Röm 1,12), und an einer weiteren Stelle erwähnt er den Glauben, den Philemon hat (»dein Glaube«, Phlm 5–6); häufiger verweist Paulus auf »unseren Glauben«. Was das Verb angeht, sagt Paulus an keiner Stelle »ich glaube«.52 In all dem drückt sich eine Tendenz aus, den Glauben nicht zu beschränken auf eine individuelle »Tat und Gesinnung des Herzens«53. Gleichwohl ist das »Ich« des Glaubens deutlich im Blick, und zwar vor allem dort, wo Paulus den Einzelnen in die Gemeinschaft der »Glaubenden«54 stellt und sich selbst in diese Gemeinschaft einreiht (»unser Glaube«55, »wir glauben« bzw. »wir kamen zum Glauben«56). |21| Ferner ist zu denken an die Wendungen »jeder, der glaubt«57 bzw. »alle, die glauben«58 und »der, der aus Glauben ist«59 bzw. »die, die aus Glauben sind«60.

Schon allein der Sprachgebrauch macht deutlich, dass keine Rede sein kann von einer »isolierenden« Auffassung des Glaubens bei Paulus. Ebenso wenig bleibt der Glaube auf ein paradoxes »Ich glaube, dass ich glaube« reduziert. Vielmehr vereint der paulinische Glaubensbegriff drei grundlegende Perspektiven: Er ist vom Einzelnen zu vollziehender Lebensakt (subjektiv), Identität stiftendes Kennzeichen einer Gemeinschaft (intersubjektiv bzw. ekklesiologisch) und in seiner Verbindung zum Christusereignis heilsgeschichtliches Phänomen (transsubjektiv). Diese drei Dimensionen teilt sich sein Glaubensbegriff mit seinem Versöhnungsgedanken (vgl. nur Röm 8,18–25; 11,15; 2Kor 5,19)61 und seiner Rechtfertigungslehre (vgl. nur Röm 1,17; 3,21).62

Verstehenshorizont

Die Rubrik »Verstehenshorizont« trägt wichtigen Einsichten der kognitiven Semantik Rechnung, derzufolge nicht nur der unmittelbare literarische Kontext für die Bedeutung von Worten ausschlaggebend ist, sondern auch das sogenannte enzyklopädische Wissen, das durch Erfahrung und Lernen angeeignet wird und das Autor und Rezipienten (vermeintlich) teilen. Die Rede vom »Glauben« evoziert ein Geflecht von Vorstellungen, Bildern und Eindrücken, die eingebettet sind in ein spezifisches kulturelles Milieu und die dem Wort »Glaube« Bedeutung verleihen. Einem Text ist immer eine intertextuelle Qualität eigen, die der Autor eingeschränkt steuern kann, und er setzt umgekehrt eine intertextuelle Kompetenz seitens der Rezipienten voraus: »Kein einziger Text wird unabhängig von den Erfahrungen gelesen, die aus anderen Texten gewonnen wurden.«63 Dadurch wird die »Aktivität der Mitarbeit« gefordert, »durch die der Empfänger dazu veranlasst wird, einem Text das zu entnehmen, was dieser nicht sagt (aber voraussetzt, anspricht, beinhaltet und miteinbezieht), und dabei Leerräume aufzufüllen und das, was sich im Text befindet, mit dem intertextuellen Gewebe zu verknüpfen, aus |22| dem der Text entstanden ist und mit dem er sich wieder verbinden wird«.64 Solche Mitarbeit ist abhängig von einer überkulturellen Kernbedeutung eines Begriffs, vom sozialen und kulturellen Kontext sowie vom Bildungs- und Wissensstand und den Erfahrungen und Erwartungen der Rezipienten.

Paulus’ Rede vom Glauben ist eingebunden in ein »intertextuelles Gewebe«, und zunächst gilt für seinen Glaubensbegriff, was für alle zentralen Begriffe des paulinischen Denkens zutrifft: Sie haben »eine jüdische und eine griechische Geschichte, die es gleichermaßen zu erheben und zu berücksichtigen gilt«.65