denk Mal 5 · Abendmahl

denkMal – Standpunkte aus Theologie und Kirche

5. Band

Christoph Ammann, Ralph Kunz, Matthias Krieg (Hrsg.)

Abendmahl

Christoph Ammann, Ralph Kunz, Matthias Krieg (Hrsg.)

Abendmahl

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Pano Verlag Zürich

Die Deutsche Bibliothek – Bibliografische Einheitsaufnahme

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Umschlaggestaltung

Simone Ackermann, Zürich

ISBN (epub) 978-3-290-22018-1

© 2007 Pano Verlag Zürich

www.tvz-verlag.ch

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotografischen und audiovisuellen Wiedergabe, der elektronischen Erfassung sowie der Übersetzung, bleiben vorbehalten.

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Inhalt

Einleitung

Grundlagen

Beat Huwyler

Was geschieht (nicht) beim Abendmahl?

Ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der Abendmahlsdiskussion

Adrian Portmann

Bewegte Körper, Essbare Zeichen.

Das Abendmahl, ritualtheoretisch betrachtet

Ruedi Reich

Zur Geschichte der Ökumene im Kanton Zürich

Diskussion

Und in der Praxis ist alles anders

Gesprächsrunde mit Aline Kellenberger,

Gina Schibler, Martin Conrad und Frank Jehle

Glossar zum Thema Abendmahl

Ein Weg durch den Dschungel der Begriffe

Abläufe

Ralph Kunz

Elementares geistlich genossen. Über den Nährwert und

Mehrwert des eucharistischen Symbols in der reformierten Tradition

Jacqueline Sonego Mettner

Herzstück. Abendmahl feiern mit Kindern und Jugendlichen

Richard A. Davis

Communion: How and Why We Do It

Elisabeth Wyss-Jenny

So sie nicht davon singen, so gleuben sie’s nicht …

Das Abendmahl im reformierten Gesangbuch

Erinnerungen

Matthias Krieg

Nahrung der Freiheit und des Friedens

Drei hebräische Traditionen des gemeinsamen Essens

Eva Ebel

«… mit einem solchen sollt ihr auch keine Tischgemeinschaft haben» (1Kor 5,11)

Die Zulassung zum Mahl in frühen christlichen Gemeinden

Pierre Bühler

Feiernd bekennen. Das Verhältnis von Bekenntnis und Abendmahl

Autorinnen/Autoren

Einleitung

Wie haben’s die Schweizer Reformierten mit dem Abendmahl? Eine kurze Antwort darauf fällt nicht leicht. Zu unterschiedlich sind die Verhältnisse von Gemeinde zu Gemeinde, von Landeskirche zu Landeskirche. Fangen wir also nicht mit dem Allgemeinen, sondern mit dem Persönlichen an: Wie haben wir’s ganz persönlich mit dem Abendmahl? Denken wir an unsere kirchliche Sozialisation, so gehörte das Abendmahl hier, in reformierten Gemeinden auf dem Land, einfach dazu, ohne dass es – im Positiven oder Negativen – eine besondere Rolle gespielt hätte. Es fand einfach statt, durchschnittlich etwa einmal im Monat und natürlich an den Festtagen. Es war eine eher ernste Angelegenheit, wenn auch zunehmend mit mehr oder weniger einfallsreichen Ideen – und mit mehr oder weniger Erfolg – versucht wurde, der Feier etwas von ihrer Steifheit zu nehmen. Aber ein Rest der Peinlichkeit blieb, auch dann, als – es muss irgendwann in den Achtzigerjahren gewesen sein – das sitzende Abendmahl zugunsten des «wandelnden Abendmahls» in den Hintergrund rückte. Weiter fiel uns auf, dass beim Abendmahl mit Vorliebe über praktische Fragen diskutiert wurde, auch unter Theologinnen und Theologen. Am hitzigsten jeweils über Gemeinschaftskelch vs. Einzelbecher und Wein vs. Traubensaft. Fragen, die stärker das inhaltliche Verständnis des Mahls betrafen, wurden kaum je diskutiert, auch nicht im Theologiestudium oder im Vikariat; eher schienen sie der Historie anzugehören.

Wie viel Allgemeines steckt in diesen persönlichen Reminiszenzen? Zumindest so viel – glauben wir –, dass diese Haltung gegenüber dem Abendmahl, die irgendwo zwischen unaufgeregtem Wohlwollen und leisem Desinteresse angesiedelt ist, nicht untypisch ist für unsere reformierte Volkskirche: Das Abendmahl findet statt, aber es ist nur für wenige eine Herzensangelegenheit. Es ist gut, dass es das gibt, aber über das «es findet statt» hinaus gibt es keinen Grund, sich eingehender damit auseinanderzusetzen. Entsprechend schwer fällt es vielen zu sagen, was das Abendmahl in reformiertem Verständnis denn eigentlich bedeutet. «Ein Erinnerungsmahl», hört man da in aller Regel, gefolgt von Abgrenzungen gegenüber Katholiken und Lutheranern. Auch bei diesem Thema scheint es für Schweizer Reformierte einfacher zu sagen, was es nicht ist: «Kein Opfer» nämlich, und «nichts Heiliges».

Der fünfte Band der Reihe denkMal will hier etwas tiefer graben und zur Reflexion und Diskussion über das Abendmahl anregen. Dabei werden die Praxis und das Verständnis des reformierten Abendmahls gleichermassen in den Blick genommen. Herausgefordert durch Anfragen, Irritationen und Diskussionen aus dem Bereich der Ökumene, versteht er sich als ein Stück reformierter Selbstvergewisserung – auf dass das Abendmahl weiterhin stattfinde, aber nicht gedankenlos.

Zürich, im August 2007

Christoph Ammann, Ralph Kunz

Was geschieht (nicht) beim Abendmahl?

Ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der Abendmahlsdiskussion

Beat Huwyler

Szene 1: Während des Requiems für Papst Johannes Paul II. am 8. April 2005 kommt es zu einem kleinen Zwischenfall mit weitreichenden Folgen. Vor den Kameras sämtlicher Fernsehketten der Welt, festgehalten auf Fotografien und dokumentiert in den Zeitungen rund um den Globus wird während der Kommunion ein alter, gebrechlicher Mann in einem Rollstuhl durch den Gang nach vorne geschoben, um aus den Händen von Kardinal Ratzinger die Hostie zu empfangen: Frère Roger Schütz, Gründer und Prior der Kommunität von Taizé, reformiert. Am nächsten Tag geht es los mit den Spekulationen. Ist Frère Roger katholisch geworden? Taizé dementiert umgehend: Frère Roger ist und bleibt reformiert, wenn auch in freier ökumenischer Akzentuierung.1 Dann trumpfen die fortschrittlichen Katholiken auf: Kardinal Ratzinger hält sich nicht an die Vorschriften des Papstes (die nach landläufiger Interpretation ja seine eigenen sind), wonach es einem Nichtkatholiken nicht erlaubt ist, in einer Eucharistiefeier zu kommunizieren. Es wird gemutmasst: Setzt Kardinal Ratzinger neue Zeichen? Beginnt schon während des Requiems für den eben verstorbenen Papst eine neue Ära? Die Sache entwickelt eine Eigendynamik. Jetzt wird es Rom unheimlich. Der Direktor des vatikanischen Pressebüros, Joaquín Navarro-Valls, muss vortreten und die Wellen glätten. Er veröffentlicht eine offizielle Erklärung, in der deutlich spürbar ist, wie man sich windet und Schadensbegrenzung sucht. Es sei, so ist zu lesen, ein Versehen, dass Frère Roger unter den Kommunionempfängern gewesen sei, aber als er nun einmal da war, habe man ihn ja nicht zurückweisen können. Das sei nicht zu verallgemeinern, und überhaupt, es sei ja bekannt, dass Frère Roger den katholischen Eucharistieglauben voll teile. Die Erklärung löst Heiterkeit oder Empörung aus, je nach Standpunkt, gelegentlich auch Mitleid mit einer Kirchenhierarchie, die sich verzweifelt bemüht, sich aus dem Netz zu befreien, in das sie sich verstrickt hat, und die nach Worten ringt, um verständlich zu machen, was heutige Menschen offenbar nicht mehr verstehen können und wollen.2

Szene 2: Zischtigs-Club im Schweizer Fernsehen DRS, 13. Juli 2004. Unter der Leitung von Christine Maier diskutieren Bischof Kurt Koch, Abt Martin Werlen und Pater Notker Bärtsch auf katholischer Seite, Pfarrer Thomas Wipf (Ratspräsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK), Pfarrer Ruedi Heinzer (Ratsmitglied SEK) und Pfarrerin Gina Schibler auf evangelischer Seite. Vorausgegangen war ein in der Öffentlichkeit breit wahrgenommener «Kirchenstreit»: In Einsiedeln war eine gemeinsame Mahlfeier, im Rahmen eines ökumenischen Gottesdienstes speziell für konfessionsverbindende Ehepaare angekündigt, nach Intervention von Abt Martin buchstäblich in letzter Minute abgesagt worden. In der ersten knappen Viertelstunde der Diskussionsrunde stellen Pater Notker, als katholischer Pfarrer von Einsiedeln der direkt Betroffene, Abt Martin und Bischof Kurt die Abfolge der Ereignisse sowie ihre Standpunkte ausführlich dar. Schliesslich erteilt die Moderatorin Pfarrerin Schibler das Wort, die bereits einmal vergeblich versuchte hatte, den innerkatholischen Diskurs zu unterbrechen. Sie sagt: «Wenn ich so zuhöre, dann kommt mir das von aussen ein bisschen wie ein innerkatholisches Gezänk vor – wie in einer Familie, wo man miteinander streitet. Können Sie mir sagen, was denn so schlimm ist an einem gemeinsam gefeierten Abendmahl? Ich finde es wunderschön und ich bin unglaublich froh, dass es so mutige katholische Brüder gibt, mit denen man das zusammen feiern kann.» Bischof Kurt beantwortet die Frage mit dem Hinweis auf den entscheidenden Unterschied im Verständnis von Eucharistie und Abendmahl, nämlich dem zwischen den Konfessionen unterschiedlich interpretierten Verhältnis von Eucharistiegemeinschaft und Kirchengemeinschaft. Im späteren Gesprächsverlauf bringt dann die reformierte Pfarrerin ihre Sichtweise folgendermassen auf den Punkt: «Ich finde, das Abendmahl ist das Mahl der Gemeinschaft, des Teilens und des Bewusstseins oder Spürens, dass wir alle nur einen Teil der Wahrheit haben, Sie einen und wir einen – und dann wird es irgendwie zu etwas Richterlichem, und das ist für mich sehr schmerzhaft.»

Diese beiden Begebenheiten sind geeignet, den gegenwärtigen Stand der Abendmahlsdiskussion zu veranschaulichen. Sie illustrieren explizit und implizit eine Reihe von grundlegenden Sachverhalten.

Wo stehen wir beim Abendmahl?

1. Die alte Streitfrage, was im Abendmahl geschehe und was nicht – also jene Frage, die jahrhundertelang als Schibbolet Katholiken auf der einen und Protestanten auf der anderen Seite sowie Reformierte auf der einen und Lutheraner auf der anderen Seite3 voneinander trennte und bis hin zu Waffengewalt und Krieg gegeneinander aufbrachte –, dieser Aspekt der dogmatisch-lehrhaften Frage nach dem Wesen des Abendmahls bzw. der Eucharistie4 ist heute nicht mehr von zentraler Bedeutung. An die Stelle dieser dogmatischen, in früheren Zeiten zu einem wesentlichen Teil konfessionelle Identität stiftenden Frage sind zwei andere Argumentationslinien bzw. -komplexe getreten.

2. Auf katholischlehramtlicher Seite wird die Lehre von der Eucharistie stärker denn je von der Ekklesiologie, der Lehre von der Kirche, her begründet, und dies mit Nachdruck und oftmals verbunden mit der strikten und manchmal geradezu vorwurfsvollen Forderung an die ökumenischen Dialogpartner, diese Sichtweise als unaufgebbares Charakteristikum des katholischen (wie natürlich auch des orthodoxen) Kirchenverständnisses endlich zu respektieren. Katholische wie protestantische ökumenische Praxis, die sich über das lehramtliche Verbot der Interzelebration und der eucharistischen Gastfreundschaft5 hinwegsetzt und Angehörige anderer Konfessionen unterschiedslos zum Mahl zulässt (und erst recht: einlädt), kann auf diesem Hintergrund als unökumenisch und damit geradezu als Hindernis und Rückschritt der Ökumene gebrandmarkt werden. Denn katholischerseits stehe, wer solche Praxis übe, nicht wirklich in Gemeinschaft mit der römisch-katholischen Kirche und vertrete sie daher in diesem Fall nicht, und protestantischerseits sei eine Grundvoraussetzung für einen echten Dialog nicht gegeben, solange das katholische Selbstverständnis nicht respektiert werde.6

3. Auf katholischer wie auf evangelischer Seite, jedoch mit je eigener Akzentsetzung, ist parallel zu dieser «Ekklesiologisierung» eine Verschiebung von theologischen, d.h. dogmatischen und exegetischen, Argumenten zu solchen des praktischen Vollzugs feststellbar. Gefordert wird dann etwa ein seelsorgerlicher Umgang mit dem verbreiteten Wunsch nach gemeinsamen Mahlfeiern bzw. mit dem noch wesentlich weiter verbreiteten Unverständnis gegenüber dem lehramtlichen Verbot von solchen konfessionsverbindenden Feiern, ob in Gestalt eucharistischer Gastfreundschaft, mit Interzelebration oder in einer anderen Form von gemeinsam gestaltetem Mahl. Häufig werden Argumente innerhalb dieses Diskurses eingeleitet mit Formulierungen der Art: «Es ist in der Praxis einfach unmöglich …», «Es ist nicht mehr zeitgemäss …», oder umgekehrt: «Es ist doch endlich an der Zeit …». Effektvoll ist auch die subtil anklagende Wendung: «Warum können wir denn nicht endlich einfach …» Um es pointiert zu formulieren: Für Abendmahl und Eucharistie ist nicht in erster Linie von Bedeutung, welchen Gehalt und welchen Sinn ihm akademische, synodale, lehr-, kirchen- oder pfarramtliche, jedenfalls reflektierende Theologie zuschreibt, sondern was vom einzelnen Priester, vom einzelnen Pfarrer oder der einzelnen Pfarrerin, den Kirchengliedern oder auch von der Öffentlichkeit, soweit sie nicht sowieso völlig indifferent und desinteressiert ist, verstanden oder nicht verstanden und gelebt oder abgelehnt wird. Oft wird in diesem Zusammenhang auch ein Gegensatz zwischen «Hierarchie» und «Basis» oder zwischen Kirchenleitung und Kirchenvolk festgestellt. Das ist zwar nicht ganz falsch, aber einseitig. Die Linie verläuft weniger zwischen Kirchenleitung und Kirchenvolk als vielmehr zwischen theologischer Argumentation und theologischer «Hemdsärmligkeit», und diese Linie verläuft erst noch quer zu den Konfessionsgrenzen. Dies zeigt sich etwa darin, dass im genannten Zischtigsclub der katholische Pater in berührender Naivität und gewiss unwissend Elemente eines klassisch reformierten Kirchen- und Abendmahlsverständnisses vertritt, während die reformierte Pfarrerin mit ihrer Bitte an die katholische Seite, zu erklären, warum für deren Verständnis das gemeinsame Mahl so schlimm sei, im Grunde nur zum Ausdruck bringt, dass sie die – hinreichend bekannten und in zahlreichen Publikationen leicht zugänglichen – theologischen Argumente (auf katholischer und evangelischer Seite) nicht kennt, nicht verstanden hat oder nicht ernst nehmen will. Dass jedoch eine theologische Argumentation, deren Gültigkeit man selbstverständlich mit gutem Recht in Frage stellen und mit besseren Argumenten widerlegen darf, qua theologische Argumentation als «etwas Richterliches» bezeichnet werden kann, ist dafür ein sprechendes Bild. Theologie ist out – «Fiire und Spüüre» ist in.

4. Die Frage nach dem Abendmahl ist heute und in unseren Breitengraden fast ausschliesslich jene nach Abendmahl und Eucharistie, also nach gemeinsamen Mahlfeiern, eucharistischer Gastfreundschaft und Interzelebration. Die Abendmahlsfrage stellt sich – jedenfalls wenn öffentliche Wahrnehmung und Öffentlichkeitswirksamkeit als Gradmesser genommen werden, die der Tagesjournalismus zelebriert wie einen Kult – als Frage der (Nicht-)Beziehung der Konfessionen zueinander, nicht als solche der konfessionsinternen Lehrbildung.7 In besonderem Mass gilt das für die grossen theologischen Fragen des Kirchen- und des Amtsverständnisses, in deren Umfeld die Abendmahlsfrage eingebettet ist, die ökumenischen Stolpersteinen par excellence. Reformierte Kirchen des 21. Jahrhunderts kämen kaum auf die Idee, ihr Kirchen- und Amtsverständnis zu thematisieren und erst recht nicht zu problematisieren, würde es ihnen nicht vom ökumenischen Diskurs – den innerprotestantischen eingeschlossen – her aufgedrängt. Und auch so tun sie sich weithin schwer damit, dass an die selbstverständliche Begründungslosigkeit reformierten Sonderdaseins von aussen ernsthafte theologische Anfragen gestellt werden, die je länger, je weniger mit dem Hinweis darauf erledigt werden können, dass das reformierte Selbstverständnis einfach zeitgemäss sei und dem postmodernen Menschen mit seinem Hang zu Individualismus und Eklektizismus, Unverbindlichkeit und Beliebigkeit entgegenkomme.

5. Schliesslich wird aber auch deutlich, dass die Theologie des Abendmahls und die Praxis des Abendmahlsvollzugs in einem direkten Zusammenhang stehen, auch wenn dieser von einer theologiemüden Zunft manchmal bestritten oder bis zur Nichterkennbarkeit aufgelöst wird. So muss denn der römisch-katholische Bischof im Zischtigsclub im Tonfall des etwas gelangweilten und ungeduldigen Lehrers der reformierten Pfarrerin wie einer verstockten Schülerin vorexerzieren, dass in katholischer Sicht Eucharistie- und Kirchenverständnis aufeinander bezogen sind (was auch unter den Katholiken nur wenige wissen und noch weniger interessiert) und dass dies direkte und zwingende Auswirkungen auf katholische und ökumenische Gottesdienste hat (oder haben sollte). Aus dem gleichen Grund müht sich ja Vatikan-Pressechef Navarro-Valls ab beim Versuch zu erklären, warum Frère Roger als Ausnahme die restriktiven Regeln nicht in Frage stellte, sondern umgekehrt gerade bestätigte – was nur deshalb kaum jemand verstand, weil kaum jemand lehramtliche Instruktionen aus Rom hören mag, offenbar auch dann nicht, wenn diese für katholisches Selbstverständnis (jedenfalls nach lehramtlicher Interpretation) zentral sind. Und so ist es im Grunde auch mit den ganz praktischen Fragen, die sich im Kirchenalltag hin und wieder stellen: Wie wird zum Mahl eingeladen, wer ist gemeint und wer nicht und weshalb? Das ist nicht zuerst eine Frage der Höflichkeit oder der praktischen Durchführbarkeit, sondern die theologische Frage nach der Bedeutung der Mahlfeier. Wer leitet die Abendmahlsfeier, wer darf bei der Austeilung helfen? Fragen, die theologisch, wüsste man das noch, mit dem Amtsverständnis verbunden sind. Wie häufig wird das Abendmahl gefeiert? Eine eigentlich primär theologische Frage, weil sie mit der Bedeutung des Abendmahls zusammenhängt – und der die Fragen der Praktizierbarkeit und der Lust oder Unlust deutlich untergeordnet sind und darum auch in der praktischen Behandlung unterzuordnen wären. Oder: Ist der Konnex von Abendmahl und Rede von Leib und Blut, Kreuz und Tod, Sünde und Schuld, Opfer und Sühne zwingend und unaufgebbar? Eine zentrale theologische Frage nach Inhalt und Bedeutung des Abendmahls, keine Frage des guten Geschmacks und auch nicht davon, ob Frau Künzli und Pfarrer Notz damit noch etwas anfangen können oder lieber auf die Einsetzungsworte und das ganze übrige Brimborium verzichten möchten, weil das ja sowieso niemand mehr glaube und erst recht niemand mehr verstehe.

Diagnose I: Dogmatikmüdigkeit

Dass die Frage, was beim Abendmahl geschehe oder nicht geschehe, in den Hintergrund getreten ist, hat verschiedene Ursachen. Einmal ist weithin eine deutliche Dogmatikmüdigkeit feststellbar. Die Zeit der präzisen Begrifflichkeit, der orthodoxen Katalogisierung und Schubladisierung, aber oftmals auch der (theo-)logischen und stringenten Argumentation und schliesslich als Folge aller dieser Müdigkeiten die Zeit des konfessionellen Bewusstseins und der konfessionellen Differenzierung überhaupt scheint vorbei zu sein. Was wirklich beim Abendmahl geschieht, kann man – ob einfacher Kirchgänger oder studierte Theologin – schlechterdings gar nicht genau feststellen. Aber das ist auch nicht ganz so wichtig. Jeder und jede darf sein, wie er und sie ist, darf seine und ihre Interpretation mitbringen, niemand wird gezwungen, irgendeine veraltete Kirchenlehre zu glauben. Das Gezänk um est und significat mag als historische Reminiszenz interessant sein – für viele nicht einmal das –, ist jedoch von keinerlei Bedeutung für die Abendmahlspraxis und schon gar nicht für heutige christliche Identität. Das mag für est und significat tatsächlich richtig sein. Für viele andere Fragen, die sich auch von der Praxis her an die Abendmahlstheologie ergeben, ist es problematisch und weder für das Zeugnis der Kirchen nach aussen noch für die Annäherung der Kirchen untereinander hilfreich, wenn vorzugsweise vom Bauch her argumentiert wird.

Diagnose II: Leuenberg

Dieser Dogmatikmüdigkeit und -gleichgültigkeit gegenüber steht eine andere Entwicklung, die für die neuere Kirchengeschichte von herausragender Bedeutung ist. Sie führte auf einem ganz anderen Weg dazu, dass die Frage nach dem, was beim Abendmahl geschehe oder nicht geschehe, mit gutem Grund – und das heisst hier: mit theologischer Begründung – in den Hintergrund treten durfte. Mit der Leuenberger Konkordie war es 1973 gelungen, die seit der Reformationszeit bestehenden Trennungen zwischen den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen zu beenden und unter ihnen Kirchengemeinschaft zu erklären. Die um die hundert8 Signatarkirchen der Leuenberger Konkordie erkennen einander trotz im Einzelnen weiterhin bestehender Lehr- und Bekenntnisunterschiede gegenseitig als wahre Kirche Jesu Christi an und sind miteinander in Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft verbunden. Für die gegenwärtige Abendmahlsdiskussion stellen die Leuenberger Konkordie und der in der Folge in der Leuenberger Kirchengemeinschaft (heute: Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) – Leuenberger Kirchengemeinschaft) eingeleitete Prozess eine wesentliche Grundlage dar. Allerdings verhalten sich bei der Leuenberger Konkordie – wie so oft – Bedeutung und Bekanntheitsgrad umgekehrt proportional zueinander. Sowohl die sich aus ihnen ergebenden Chancen wie die Verpflichtungen – die es tatsächlich gibt, wie reformierte Individualisten sich gelegentlich sagen lassen müssen – konnten sich erstaunlich wenig im kirchlichen Bewusstsein verankern, und zwar auch bei Vertreterinnen und Vertretern der theologischen Zunft. Es erscheint von daher angezeigt, bei diesem Ausgangspunkt einen Moment zu verweilen.

Für heutige Protestanten ist es kaum noch nachvollziehbar, dass bis weit in das 20. Jahrhundert hinein evangelische Christinnen und Christen unterschiedlichen Bekenntnisses – also lutherische, reformierte, unierte, von den Freikirchen ganz zu schweigen – miteinander nicht Abendmahl feiern konnten. Dies ist besonders unverständlich in Zeiten äusserer und innerer Bedrohung. Doch war etwa während der Barmer Theologischen Synode 1934 genau dies, so viel auf anderer Ebene erreicht werden konnte, nicht denkbar.9 Der Grund für die Unmöglichkeit einer gemeinsamen Mahlfeier und weithin auch der Teilnahme an der Mahlfeier einer anderen evangelischen Konfession liegt darin, dass – nach protestantischem genauso wie nach katholischem Verständnis – Abendmahlsgemeinschaft Kirchengemeinschaft voraussetzt. Kirchengemeinschaft aber bestand seit der Reformationszeit zwischen den bekenntnisverschiedenen Kirchen nicht. Dabei bildete die Abendmahlsfrage bzw. der Abendmahlsstreit zwischen den Kirchen der Reformation nur einen der Differenzpunkte.10 Die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes gegen den Nationalsozialismus führte jedoch dazu, dass frühere Bemühungen, die Trennung zu überwinden, intensiviert wurden. Diese Anstrengungen gipfelten 1957 in den «Arnoldshainer Abendmahlsthesen», deren Konsensformulierungen in leicht veränderter Form schliesslich 1973 in die Leuenberger Konkordie aufgenommen wurden.11

Doch nicht die Formulierungen zum Abendmahl in der Leuenberger Konkordie an sich sind das theologisch Bedeutsame. Wichtiger ist, dass die Kirchen der Reformation sich auf die Voraussetzungen einigten, unter denen für sie Kirchengemeinschaft möglich ist. Sie formulierten dies so: «Die Kirche ist allein auf Jesus Christus gegründet, der sie durch die Zuwendung seines Heils in der Verkündigung und in den Sakramenten sammelt und sendet. Nach reformatorischer Einsicht ist darum zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend12 In intensiven Lehrgesprächen, an denen Delegierte verschiedener reformatorischer Kirchen aus ganz Europa teilnahmen, konnte ein gemeinsames Verständnis festgestellt werden, das es den Kirchen ermöglichte, «Kirchengemeinschaft zu erklären und zu verwirklichen»13. Und so formulierten die an der Leuenberger Konkordie beteiligten Kirchen feierlich: «Mit diesen Feststellungen ist Kirchengemeinschaft erklärt. Die dieser Gemeinschaft seit dem 16. Jahrhundert entgegenstehenden Trennungen sind aufgehoben. Die beteiligten Kirchen sind der Überzeugung, dass sie gemeinsam an der einen Kirche Jesu Christi teilhaben und dass der Herr sie zum gemeinsamen Dienst befreit und verpflichtet.»14 Auf der Basis der nun festgestellten Kirchengemeinschaft stehen Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen den noch immer bekenntnisverschiedenen Kirchen. Es gibt keine und wird auch keine protestantische Einheitslehre angestrebt, auch nicht in Bezug auf die Abendmahlslehre. Die bekenntnisverschiedenen Kirchen erklären die Kirchengemeinschaft «in der Bindung an die sie verpflichtenden Bekenntnisse oder unter Berücksichtigung ihrer Traditionen»15, doch vermögen die verbleibenden Unterschiede die Kirchengemeinschaft nicht mehr in Frage zu stellen. Das der Leuenberger Konkordie und der Kirchengemeinschaft zugrunde liegende Modell ist das der «Einheit in versöhnter Verschiedenheit»16.

Es sei eigens darauf hingewiesen: Auch zwischen den evangelischen Kirchen musste Kirchengemeinschaft hergestellt werden, damit Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft möglich wurden. Es ist nicht einfach so, dass nur die Katholiken Mühe haben mit den Protestanten; die Protestanten hatten lange Zeit – über 400 Jahre – auch miteinander erhebliche Mühe und taten sich schwer damit, einander als wahre Kirche Jesu Christi anzuerkennen. Das wurde erst 1973 mit der Leuenberger Konkordie offiziell und im grossen Stil möglich. – Daran gemessen ist es mehr als unfair und zeugt von wenig Geschichts- und Problembewusstsein, wenn Protestanten ungeduldig die Haltung des katholischen Lehramts gegenüber den Kirchen der Reformation tadeln und sie als stur und unzeitgemäss kritisieren. So lange ist der Balken aus dem protestantischen Auge nun auch noch nicht entfernt. Ganz abgesehen davon, dass die theologischen Streitpunkte, die die römisch-katholische Kirche von den Kirchen der Reformation trennen, um einiges schwerer wiegen als die innerprotestantischen Differenzen.

Die Leuenberger Konkordie beschreibt sozusagen den Minimalkonsens, den die Kirchen der Reformation in Bezug auf das Verständnis des Evangeliums miteinander teilen. Dieser umfasst Rechtfertigung, Verkündigung, Taufe und Abendmahl. Die knappen Formulierungen, die das Abendmahl betreffen, benennen sechs Elemente: 1) Gegenwart und Geschenk Jesu Christi, 2) Vergebung und neues Leben, 3) Gemeinschaft und Dienst, 4) Vergegenwärtigung und Verkündigung, 5) Bekenntnis und Begegnung, 6) Dank und Lob.17 Einige weitere Sätze beziehen das gemeinsame Abendmahlsverständnis auf die Lehrverurteilungen der Reformationszeit, die mit der Konkordie überwunden sind.18 Mit der Zustimmung zur Leuenberger Konkordie erklären die betreffenden Kirchen – auch diejenigen unter ihnen, die kein Bekenntnis mehr haben –, dass sie im Verständnis des Evangeliums, und darin also auch dem Verständnis des Abendmahls, wie es in der Konkordie zum Ausdruck kommt, übereinstimmen.19 Die Konkordie selbst will ausdrücklich kein Bekenntnis sein und lässt die verpflichtenden Bekenntnisse der Signatarkirchen bestehen.20 Dennoch sind die Formulierungen der Konkordie für die beteiligten Kirchen verbindlich. Und das bedeutet auch: Ein einseitiges explizites Abweichen einer Kirche von den Konsensformulierungen hätte – auch wenn die Konkordie selbst dies nicht ausdrücklich festhält, jedoch konsequenterweise – den Bruch mit den anderen an der Konkordie beteiligten Kirchen zur Folge.

Die Leuenberger Konkordie beinhaltet eine weitere, weitreichende Verpflichtung, nämlich diejenige zu «kontinuierlichen Lehrgesprächen» unter den an der Konkordie beteiligten Kirchen.21 Zu den Lehrunterschieden, die als nicht kirchentrennend gelten und an denen die Gemeinschaft theologisch arbeiten will, gehören insbesondere hermeneutische Fragen im Verständnis von Schrift, Bekenntnis und Kirche, das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, die Taufpraxis, Fragen um Amt und Ordination, die Zwei-Reiche-Lehre und die Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi, das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft.22 Signatarkirchen der Leuenberger Konkordie sind somit in den Fragen ihrer Lehrentwicklung nicht völlig frei, sondern aufeinander verwiesen. Dieses Grundelement des evangelischen Kirchenverständnisses ist insbesondere den reformierten Kirchen der Schweiz, die sich bis heute vor allem ihrer Bekenntnisfreiheit rühmen, noch nicht recht in Fleisch und Blut übergegangen. Ist in der Konkordie die Frage des Verhältnisses von Konkordie, Kirchengemeinschaft und Bekenntnis nur wenig reflektiert, so gilt das in den Schweizer Kirchen erst recht für dasjenige von Konkordie, Kirchengemeinschaft und Bekenntnisfreiheit.

Seit der Entstehung der Leuenberger Konkordie haben eine ganze Reihe von Lehrgesprächen stattgefunden, darunter auch über Fragen, die für Theologie und Praxis des Abendmahls von zentraler Bedeutung sind.232425