Holger Finze-Michaelsen

Ohne Liebe – nichts

Roter Faden für das Leben (1. Korinther 13)

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de/ abrufbar.

Umschlaggestaltung
Simone Ackermann, Zürich, unter Verwendung von August Macke (1887–1914), «Landschaft mit drei Mädchen», um 1911. Öl auf Pappe, 55 × 63,5 cm. Foto: akg-images

Bibelzitate nach: Zürcher Bibel 2007


ISBN 978-3-290-17596-2 (Buch)
ISBN 978-3-290-17671-6 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2011 Theologischer Verlag Zürich
www.tvz-verlag.ch

Alle Rechte – auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotografischen und audiovisuellen Wiedergabe, der elektronischen Erfassung sowie der Übersetzung – bleiben vorbehalten.

Inhalt

Inhalt

Vorwort

Teil 1 Voraussetzungen zum Verstehen

I. «Liebe» ist nur ein Wort

Wörter sind auf Reisen

Zwischen «Liebesnest» und «Ordnungsliebe»: «Liebe» auf Deutsch

Ein Wort neu lernen

II. Der lange Weg vom Rand in die Mitte: das Wort agapē

Die Hebräische Bibel wird griechisch

Gottes «Liebe» kommt erst spät

Aus dem Aschenputtel agapē wird eine Königin

agapē: Bei Paulus vom Anfang an ein Hauptwort

III. Paulus schreibt nach Korinth

«Meine geliebten Kinder»

Das «Wort vom Kreuz» wird in Korinth «angenommen»

Das kosmopolitische Korinth: Prototyp der multireligiösen Weltstadt

Sklavenhalter und Sklaven: Eine Gemeinde im Spannungsfeld der Gesellschaft

Das Wort von Christus glauben – das Wort von Christus tun

IV. Das Blut im Leib Christi: Agape

Schlaglichter auf das Gemeindeleben

Gaben des Geistes, aber keine pneumatische Karriere

Was der Geist Gottes gibt

Zungenreden, Glossolalie: Das Erstaunliche muss nicht das Höchste sein

Der Leib Christi hat nicht nur Füsse

Miteinander und nebeneinander

Was im Leib Christi zirkulieren muss

Teil 2 1. Korinther 13

V. Alles kann «nichts» sein (1. Korinther 13,1–3)

Vom «ich» zum «du»

Was lieb gemeint ist, muss nicht Liebe sein

Menschen- und Engelszungen

Prophetie, Mysterium, Erkenntnis

Glaube, der Berge versetzt

Verzicht auf Besitz

Hingabe bis in den Tod

Woran alles zu messen ist

VI. Was die Liebe kann und was sie nicht kann (1. Korinther 13,4–7)

Beschämende Worte

Langer Atem und entwaffnende Güte

Übereifer, Prahlerei, protzendes Auftreten

Taktlosigkeit

Von sich her denken und handeln

Verbitterung

Akten der Verfehlungen anlegen

Hässlichkeit und Schönheit der Freude

Viermal «alles» gegen «nichts»

VII. Was vergehen wird und was bleibt (1. Korinther 13,8–10)

Die Liebe: Roter Faden ohne Ende

Alles ist relativ

Das Vollkommene ersetzt das Stückwerk

Leben im Vorletzten

VIII. Im Präsens leben, das Futur erwarten (1. Korinther 13,11–12)

Kindlichkeit im Provisorium

Das neue, andere Sehen

Was jetzt schon gilt

Ich werde gedacht, also bin ich

IX. Glaube und Hoffnung – beides in Liebe (1. Korinther 13,13)

Fragezeichen hinter eine berühmte Formel

Die Kontinuität der Liebe

Kreuz, Anker, Herz

Glaube als gelebte Liebe

Hoffnung als gelebte Liebe

Ausblick

X. 1. Korinther 13: Der Pfahl im Fleisch

Literatur

Seitenverzeichnis

|9| Vorwort

Es gibt Bibeltexte, von denen sich ein beruflich mit der Auslegung und Verkündigung Beauftragter besonders angezogen fühlt. Und es gibt umgekehrt Bibeltexte, um die er nach Möglichkeit einen Bogen macht. Für beides kann es ganz verschiedene Gründe geben. Zu der letztgenannten Sorte gehörte für mich das 13. Kapitel im 1. Korintherbrief des Apostels Paulus, das die Liebe zum Thema hat. Ich empfand diese Abneigung, weil mir die Worte, deren Schönheit und Tiefe für mich immer ausser Frage standen, allzu oft im Tonfall von Sentimentalität, Liebesschwärmerei und Gefühlsseligkeit ans Ohr gekommen waren. Verliebtheit, Hochzeit und manchmal auch ein Todesfall bildeten den Rahmen für die Rede von «der Liebe» – aber meist nicht im Sinne des Paulus: Dass der Apostel sie hier nämlich beunruhigend, mit scharfer Polemik und beschämenden Worten zum Thema macht, fiel dabei meist unter den Tisch. Ich gebe zu: Das ärgerte mich. Und Ärger ist ein schlechter Ratgeber zur Vorbereitung einer Predigt. Darum machte ich den besagten Bogen um das 13. Kapitel.

Im Jahr 2007 begann ich, alter reformierter Tradition entsprechend, mit der fortlaufenden Auslegung des 1. Korintherbriefes in den Sonn- und Feiertagspredigten der Reformierten Gemeinde Zweisimmen (Kanton Bern). Dass ich dabei auch einmal bei jenem 13. Kapitel ankommen würde, lag in der Natur der Sache und war also unumgänglich. Ich entschloss mich, dieses Kapitel über die Liebe gewissermassen im Trippelschritt zu durchlaufen, an acht Sonntagen. Dabei erkannte ich noch mehr als früher, wie sehr es eingebettet ist in den Zusammenhang des gesamten Briefes. Das bewog |10|mich, in den folgenden Jahren der «Agape» bei Paulus weiter nachzugehen. Meine Beobachtungen und Überlegungen sind nun hier zusammengefasst. Es ist der Versuch, von Paulus aus weiterzudenken und sein grosses Thema – das christliche Leben, das ohne Liebe nichts ist – für unsere Zeit zu verstehen.

Der 1. Korintherbrief hat viele Auslegungen erfahren. Die Leserinnen und Leser werden feststellen, dass ich jene von Karl Barth und Wolfgang Schrage mit besonderem Gewinn gelesen habe.

Herrn Samuel Arnet vom TVZ bin ich sehr dankbar für seine minutiöse Aufmerksamkeit, mit der er den Weg zur endgültigen Fassung des Manuskriptes begleitet und mich als «primus lector» beraten hat.

Bei der Wiedergabe der Bibeltexte folge ich in der Regel der neuen Zürcher Bibel (2007). Zum Vergleich werden einige andere Varianten erwähnt, um die Bandbreite der Verständnismöglichkeiten aufzuzeigen.

|11| Teil 1
Voraussetzungen zum Verstehen

I. «Liebe» ist nur ein Wort

Paulus schreibt im berühmten 13. Kapitel seines Briefes an die Gemeinde in Korinth über «Liebe». Liebe ist für keinen, der deutsch spricht, ein Fremdwort. Jeder weiss damit etwas anzufangen: Für jeden verbinden sich mit dem Wort Erfahrungen, Gefühle, Lebensgeschichten und Lebensweisheiten. Jeder kennt dieses eigentümliche Wechselspiel von Geben und Nehmen, das sich auf tausend Weisen jeden Tag ereignet. Und dennoch wäre es fatal, beim Aufschlagen von 1. Korinther 13 so zu tun, «als ob es sich dabei um eine jedermann geläufige und bekannte Sache handelte» (Georg Eichholz, 174). Warum?

Wörter sind auf Reisen

Wörter gehen vom sprechenden Mund des einen Menschen in das hörende Ohr des anderen, von der schreibenden Hand des einen Menschen in die lesenden Augen des anderen. Wörter machen diesen langen, hindernisreichen und manchmal auch gefährlichen Weg vom einen Menschen zum anderen, einen Weg mit tausend Schwellen, Kurven, Abgründen, Verzweigungen. Finden Wörter Gehör und werden sie so verstanden, wie sie gemeint waren, sagen wir von ihnen, als wären sie Reisende auf dem Weg von A nach B: «Sie sind angekommen.»

Aber so leicht, so schnell reisen Wörter in der Regel nicht. «Wörter allein – Glück, Gerechtigkeit, Wahrheit |12| etc. – haben ein faules Flair. Sie stehen da wie Ölgötzen. In Bewegung kommen sie erst, wenn sie verwendet werden, in immer wieder verschiedenen Zusammenhängen auftreten» (Dieter Thomä, 298). Dem grossen Wort «Liebe» geht es nicht anders: Es kann nichts, gar nichts heissen. Es kann nur eine Worthülse sein, die sich als floskelhaft, leer, abgedroschen und letztlich tot erweist. Es kann ein Wort sein, das man nur aus purer Gewohnheit, aus antrainiertem Anstand oder aus Phantasielosigkeit braucht, ohne sich dabei etwas (oder etwas Wesentliches) zu denken. Es kann ein Wort sein, das durch allzu häufigen Gebrauch abgegriffen erscheint wie eine Münze, die durch unzählige Hände gegangen ist.

Und ein Wort kann alles heissen. Ein prall gefüllter Begriff, in dem sich die Summe von Wahrheit, Lebenshaltung und Sinn ausdrückt. Ein gewichtiges Wort, das überrascht, verwirrt, berührt, weil es Tiefgang hat. Ob leer oder gefüllt, das entscheidet sich offenbar erst dann, wenn ein Wort gebraucht und so zum Reisenden wird von A nach B. Erst wenn seine eigene Dynamik erkennbar wird, kommt es beim Hörer und Leser an.

«Liebe» steht da «wie ein Ölgötze». Es ist zunächst nur ein Wort, bestehend aus fünf Buchstaben. Aber es gehört in seiner Kleinheit zu den Zauberworten unserer Sprache: Neben «Glück», «Gerechtigkeit» und «Wahrheit» wären wohl auch «Gesundheit», «Frieden» oder «Sicherheit» zu nennen. Zauberworte haben es an sich, einen Menschen durch ihren Klang einen Augenblick lang zu verzaubern, zu betören – und dann auch zu blenden. Einen Augenblick lang erscheinen sie in ihrer ganzen Einfachheit, Klarheit und Güte; ist aber dieser Augenblick vorüber, verschwindet der Zauber, das Einfache wird vielschichtig, |13| Klare verschwimmt. Es folgt die geistige Anstrengung der Differenzierung, der Nachdenklichkeit und der Reflexion. Bedeutungshorizonte öffnen sich, doppelte und dreifache Böden treten zutage. Wörter, die «für sich selbst sprechen», gibt es demnach kaum; sie brauchen Klärung. Zauberworte ganz besonders.

Zwischen «Liebesnest» und «Ordnungsliebe»: «Liebe» auf Deutsch

«Liebe» gehört wohl zu den vielseitigsten Wörtern unserer Sprache. Nur «in Bewegung», also im Zusammenhang, wird verständlich, was damit gemeint ist. Wenn ein Ehepaar seine Goldene Hochzeit feiern kann, wird der Festredner die fünfzig Jahre Ehe kaum als «Liebelei» bezeichnen. Einer Pflegefachfrau, die sich mit grossem Engagement, Sachwissen und Verantwortungsgefühl ihrer Arbeit widmet, wird man nachsagen, dass sie sich der Patienten «liebevoll» annimmt; man wird sie aber nicht eine «Liebesdienerin» nennen. Eine Fastfood-Kette wirbt für ihre Hamburger mit dem Slogan «Ich liebe es»; jene Restaurants sind deshalb aber keine «Liebesnester». Man singt im Volkslied «Wie lieblich ist der Maien»; es käme aber niemand auf die Idee, diesen Monat «liebenswürdig» zu finden. «Wir liebten uns» klingt am Morgen nach einem erotischen Abenteuer anders als im Lebenslauf zweier hochbetagter Geschwister, deren Verhältnis zueinander nie getrübt war. Man mag eine ausgeprägte «Ordnungsliebe» haben, wird deshalb aber kaum in «Liebeskummer» verfallen. Eine Frau kann einen «Liebhaber» erwarten; deren Zusammensein ist aber keine «Liebhaberei». Nicht jeder Brief, der mit «Lieber Max» beginnt, ist ein «Liebesbrief». Max kann mir nämlich sehr «lieb» sein, aber darum bin ich noch lange |14| nicht in ihn «verliebt». – Was für eine Flut von Wörtern, die -lieb- verwenden! So wie man den Eskimos (leider ist es eine Legende) nachsagt, sie hätten etliche hundert Wörter für die Beschaffenheit von Schnee, weil das gefrorene Wasser in unzähligen Zuständen nun einmal ihre Welt sei, so dürften wir Entsprechendes in Bezug auf «Liebe» sagen.

Die Vielzahl der Wort- und Sinnkombinationen lässt darauf schliessen: Liebe ist eines der prominentesten Themen unserer Lebens. Welches Gewicht hat die Zuwendung der Eltern für ein Kind in den ersten Jahren; wie kann hier im Grundvertrauen oder im Grundmisstrauen ein lebenslang wirksamer Boden bereitet oder zerstört werden! Angenommen zu sein ist kein Bedürfnis einer Minderheit; jeder braucht diese Variation von Liebe, die einen Menschen gelten lässt, wahrnimmt und hineinnimmt in eine Gemeinschaft. Liebe hat immerhin auch Unterhaltungswert. Ein erfahrener Rockmusiker meinte in einem Interview, dass es in der Rock- und Popmusik zu 90 Prozent um das Thema «Liebe» gehe (bei den Schlagern käme man wohl auf 95 Prozent). Was wäre das Theater ohne den Dauerbrenner-Stoff «Romeo und Julia»? Was wäre Hollywood ohne seine Liebesfilme? Dabei geht es ja nicht nur um Suchen, Finden, Verlieren, wieder Finden, Happy End, sondern auch um Ehebruch, Rosenkrieg, Intrige – bis hin zu Mord und Totschlag. Das kommt nicht von ungefähr: In der internationalen Statistik der Ursachen für Tötungsdelikte rangiert ganz oben neben «Geld» die unheimliche Schwester der Liebe, die Eifersucht. Ja, und «Liebe» gehört zu den Hauptwörtern der grossen Weltreligionen: Im Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und Christentum ist «Liebe» kein Fremdwort – keine trägt es nur irgendwo am Rande durch die Zeit.

|15| Ein Wort neu lernen

Wir haben also wirklich keinen Grund, beim Lesen des Briefes des Apostels Paulus über die Liebe so zu tun, «als ob es sich dabei um eine jedermann geläufige und bekannte Sache handelte.» Das gilt natürlich auch oder sogar besonders für die biblisch-christlich-kirchliche Seite, die jetzt genauer zu betrachten ist. «Liebe» gehört ohne Zweifel zu den Schlüsselwörtern des christlichen Glaubens. Die Liebe als das Wesen Gottes, umgekehrt auch die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten – das sind Leitgedanken, die in der Bibel überall gegenwärtig sind. Was aber Paulus mit «Liebe» meint und warum er überhaupt von «Liebe» spricht, will genau in Erfahrung gebracht werden. Sonst geschieht es, dass nicht er gehört wird, sondern die eigene Vorstellung davon, was er wohl meinen könnte. «Wieder gilt wie so oft beim Lesen und Hören der Schrift, dass wir nur dann lernen, wenn wir zugleich zu verlernen bereit sind» (Ernst Käsemann, 104–105). Zu verlernen gäbe es in diesem Falle viel: «Leider haben wir dieses Kapitel schrecklich sentimentalisiert, ihm die kitschige Überschrift eines ‹hohen Liedes› gegeben und es bevorzugt bei Hochzeitsfeiern verwandt, als wären die ineinander gelegten Hände eines jungen Paares die beste Illustration zu unserem Text. So wird verdeckt, dass hier christliche Gemeinde auf die Schanze gerufen wird.» In der Tat geht es hier nicht um Ein- oder Zweisamkeit, sondern um die tätige Existenz der christlichen Gemeinde in der Welt. Das soll jetzt – bevor wir uns dem 13. Kapitel des Briefes zuwenden – an zwei Faktoren abgelesen werden: Zum einen an dem bestimmten Wort, das Paulus hier für «Liebe» braucht, und zum anderen am ganzen Zusammenhang des Briefes an die Gemeinde in Korinth.

|16| II. Der lange Weg vom Rand in die Mitte: das Wort agapē

Wörter haben ihre Geschichte. Sie sind im Werden und sind irgendwann ein selbstverständlicher Begriff in der Alltagssprache. Martin Luther kannte noch keinen «Arbeitsmarkt», Hildegard von Bingen kein «Pensionsalter», Johann Sebastian Bach keine «Alzheimer-Krankheit». Ebenso können Wörter in einem langsamen Prozess vergehen, weil sie immer weniger gebraucht werden. Vom «Bader», dem Knecht in den mittelalterlichen Badestuben, spricht heute niemand mehr. Keiner kämpft mehr «ritterlich». Man zückt zwar noch den «Geldbeutel», weiss jedoch, dass dieser altertümliche Ausdruck längst nicht mehr zutreffend ist. Wörter kommen und gehen. Dass sie uns vertraut sind, heisst nicht, dass sie immer schon da waren.

So ist es mit dem Leitwort von 1. Korinther 13: Liebe. Paulus, der seine Briefe alle auf Griechisch, der damaligen Verkehrssprache des Mittelmeerraumes, schrieb, spricht von agapē; im griechischen Lebensalltag wurde es kaum verwendet, nur im Judentum war es zu einem wichtigen Begriff geworden. Es war (neben Johannes) vor allem Paulus, der es in seinen Briefen in die Mitte der Aufmerksamkeit holte, und so wurde agapē zum Schlüsselbegriff des Christentums. Der Weg dahin war allerdings lang.

Die Hebräische Bibel wird griechisch

Was heute in der Christenheit gewöhnlich als das «Alte Testament» bezeichnet wird (oder auch als das «Erste Testament» oder die «Hebräische Bibel»), ist hauptsächlich |17| in der hebräischen Sprache überliefert. Neben Jüdinnen und Juden können heute nur wenige in dieser Originalsprache einen biblischen Text lesen; diese wenigen sind meist die, die beruflich mit der Auslegung der heiligen Schrift beschäftigt sind. Für den persönlichen Gebrauch und auch im Gottesdienst stehen Bibelübersetzungen in der jeweiligen Alltagssprache zur Verfügung. Hinter diesem selbstverständlich gewordenen Sachverhalt steht die Überzeugung, dass es nicht allein um die wort- und sprachengetreue Wiedergabe und Aneignung einer Botschaft geht, sondern um das Verstehen dieser Botschaft. Der Islam hat ein anderes Verständnis der Sprache; der Koran wird weltweit in seiner Originalsprache, auf Arabisch, rezitiert. Im Judentum erfolgen die Lesungen in der Synagoge und im Haus wie auch die täglichen Gebete auf Hebräisch.

Was uns hier interessiert, ist ein folgenreiches Grossereignis in der Geistesgeschichte. Etwa um die Mitte des 3. Jahrhunderts vor Christus begann die Arbeit, die Hebräische Bibel in die sich auf dem Vormarsch befindende griechische Sprache zu übersetzen. Weil einer Legende zufolge etwa 70 Gelehrte daran mitwirkten, bürgerte sich für diese Übersetzung der Begriff «Septuaginta» (meist mit der römischen Zahl LXX abgekürzt) ein. Es waren zunächst die griechischsprachigen Juden in Ägypten, die ihre ursprüngliche Muttersprache nicht mehr verstanden und denen auf diese Weise entgegengekommen werden sollte; später waren es geschätzte sechs bis sieben Millionen Juden in der Diaspora, die auf diese Weise ihre «neue» Bibel bekamen.

Wird ein Text übersetzt, werden nicht nur Wörter der einen in Wörter der anderen Sprache transportiert; ebenso wichtig ist es, dass der ganz spezifische Sinn eines Wortes – ein Nebensinn, ein Unterton, eine besondere Tradition – oder |18| Assoziationen, die ausgelöst werden bei denen, die die Sprache kennen, nicht verlorengehen. Aber ein Pendant zum Begriff in der einen Sprache ist in der anderen womöglich gar nicht vorhanden, oder es findet bei der Übersetzung eine Sinnverschiebung statt, die sich durch einen anderen Kulturhintergrund erklären lässt.

Beim Übersetzen der Hebräischen Bibel ins Griechische wurde somit hebräisches Denken in eine griechische Form gegeben, und das hatte weitreichende Konsequenzen, so dass der Ausdruck «Grossereignis» für dieses Unternehmen keineswegs übertrieben ist.

Berühmt ist das Beispiel nefesch, das im Hebräischen ursprünglich «Kehle» meint, den Sitz der Lebenskraft, die «Gurgel», durch die Luft, Wasser, Nahrung, Töne und Sprache gehen – alles elementare Dimensionen des menschlichen Lebens. Das ist typisch für das Hebräische, diese «leibhaftige» Art, vom Menschen zu reden. «Lobe den HERRN, meine Kehle!», wäre demnach der Beginn von Psalm 103. In der LXX wurde nun für nefesch das Wort psychē eingesetzt, das in eine völlig andere Richtung weist: hin zum Geistigen. Der nächste Schritt führte dann auf diesem Weg weiter zum deutschen Wort «Seele».

Die LXX verhalf zwar den griechischsprachigen Juden zum Verstehen der Tora, füllte aber gleichzeitig alte Worte mit neuen Inhalten. Die Übersetzung bewirkte jedenfalls, dass die Glaubensgrundlage des Judentums in der damaligen Welt kommunizierbar und somit bekannter wurde. Das alles hatte natürlich seinen Einfluss wiederum auf das Neue Testament, dessen Schriften in der griechischen Sprache verfasst wurden: Was die LXX vorgespurt hatte, dessen konnte man sich nun bedienen. So tat es auch Paulus, als er agapē zu einem Schlüsselwort des christlichen Glaubens machte.

|19| Gottes «Liebe» kommt erst spät

Das hebräische Wort für «lieben» (’ahab), das im Alten Testament über 200-mal verwendet wird, hat «ungefähr den Bedeutungsumfang wie im Deutschen» (Horst Seebaß, 129) – und dieser ist bekanntlich immens. Dass jedoch Gott sein Volk «liebt», ist in der biblischen Entstehungsgeschichte erstaunlicherweise eine verhältnismässig junge Aussage. Seine Liebe erweist sich vornehmlich in der Weise seines Tuns, auch ohne dass ein bestimmter Oberbegriff dafür gebraucht worden wäre; sie steckt in allen Werken Gottes. Das betreffende Stichwort brauchte es über viele Jahrhunderte nicht. «Die Liebe Gottes ist nach dem Zeugnis des Alten Testaments ganz und gar eine Tat, also nicht ein Gefühl, eine Gesinnung, Verhaltensweise und Einstellung Jahwes» (Karl Barth, 4/2, 863–864). Auf Menschen bezogen gilt Gottes Liebe allerdings fast immer einem Kollektiv: seinem Volk. Der Einzelne ist dabei Teil des Ganzen.

Einige markante Beispiele mögen dies verdeutlichen. In der biblischen Überlieferung ragt der folgende Appell besonders heraus: «Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft» (Deuteronomium 6,4–5). Umgekehrt, vom Menschen aus betrachtet, sind Formulierungen wie «Ich liebe den HERRN» (Psalm 116,1) höchst selten. Es ist die Scheu, Gott in dieser sprachlichen Weise zu nahe zu treten, und darum werden lieber «der Name des HERRN», seine Gebote, sein Heil oder sein Heiligtum genannt. Die Liebe zum Mitmenschen gehört ebenso in den Bedeutungshorizont: «du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst» (Leviticus 19,18), oder wie Martin Buber übersetzte: «… denn er ist wie du.» Und aus dem |20| Fundus der Lebensweisheit: «Besser ein Gericht von Gemüse mit Liebe, als ein gemästetes Rind mit Hass» (Sprüche 15,17).

Die Vokabel ahab hat im Alten Testament also noch längst nicht (wie dann später im Neuen Testament) den Rang eines charakteristischen Schlagwortes, das nicht nur das Verhältnis zu Gott, sondern alle Dimensionen verantwortlichen mitmenschlichen Verhaltens ausdrücken würde. Es bleibt in dieser Hinsicht ein gelegentlich fallender Ausdruck, dem die «Prominenz» noch fehlt.

Aus dem Aschenputtel agapē wird eine Königin

Bei der Übersetzung von ’ahab ins Griechische standen vor allem drei Wörter zur Verfügung: erōs (Verb: eraō), philia (Verb: phileō) und agapē (Verb: agapaō). eraō/erōs ist «das leidenschaftliche Lieben, das den andern für sich begehrt» (Ethelbert Stauffer, 34), und das nicht nur im «erotischen» Sinne, den es freilich auch einschliesst; erōs hat etwas Angreifendes, Energisches und für sich Beanspruchendes. Dagegen bezeichnet phileō/philia «zumeist die Neigung, die fürsorgliche Liebe […], nicht Trieb oder Rausch» (ebd., 36); es ist die zurückhaltende und aufs Gegenüber ausgerichtete Variante.

Die Übersetzer vom Hebräischen ins Griechische wählten nun aber auffälligerweise agapaō/agapē, das dritte und «blasseste griechische Verb für den Bedeutungsbereich ‹lieben›, das nur die wenig feste Bedeutung ‹sich mit etwas zufrieden geben› hatte» (Oda Wischmeyer, 1981, 25). Ein Wort ohne Pathos, ohne grosse Tradition, allerdings auch ohne grosse Vorbelastungen; immerhin wurde Eros in der Antike als Gottheit verehrt. «Während der Eros das Denken der Dichter und Philosophen von Homer bis Plotin immer |21| neu beschäftigt hat, ist agapaō kaum jemals zum Gegenstand grundsätzlicher Betrachtung geworden» (Ethelbert Stauffer, 34). Diese Entscheidung bedeutete, dass ein Wort vom Rand der Alltagssprache nun in den Mittelpunkt einer Religion gerückt wurde und eine ganz neue Bedeutungsfülle bekam. «Dies Verb wurde in LXX Träger des gesamten Spektrums der ‹Liebe›, von der Liebe der Geschlechter über die Verwandten- und Nächstenliebe bis zur Feindesliebe – soweit der profane Gebrauch –, darüber hinaus aber der Liebe Gottes zu Israel und der Erwiderung dieser Erwählungsliebe durch Israel in Liebe und Gehorsam» (Oda Wischmeyer, 1981, 25). So machten die griechisch denkenden Juden das Wort agapē zu einem theologischen Begriff – und das mit einer bis dato unbekannten Breite verwendete und jetzt enorm aufgewertete Wort wurde Teil ihrer Glaubenssprache. Aus dem Aschenputtel agapē wurde durch die LXX eine Königin.

So war es selbstverständlich, dass agapē/agapaō später auch ins Neue Testament gelangte, und zwar nicht nur an den vielen Stellen, in denen aus dem Alten Testament zitiert wird (etwa bei der herausragenden Frage nach dem höchsten Gebot, Matthäus 22,34–40). In den ersten drei Evangelien kommt das Nomen agapē (die Liebe) allerdings nie vor, sondern nur das Verb agapaō (lieben), und das spärlich. Einige Beispiele: «Liebt eure Feinde», sagt Jesus (Matthäus 5,44). «Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was für ein Dank steht euch dann zu? Auch die Sünder lieben ja die, von denen sie geliebt werden» (Lukas 6,32). Die Feindesliebe wird damit zum Prüfstein der Liebesbereitschaft und -fähigkeit schlechthin. Über die Frau, die ihn mit kostbarem Öl salbt und die buchstäblich zu seinen Füssen weint, sagt Jesus: «Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig» (Lukas 7,47). Es fällt auf, dass agapaō hier fast |22|