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Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich

ISBN 978-3-290-17627-3 (Buch)
ISBN 978-3-290-17735-5 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2013 Theologischer Verlag Zürich
www.tvz-verlag.ch

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Marco Hofheinz, Matthias Zeindler (Hg.)

Reformierte Theologie weltweit

Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert

Inhaltsverzeichnis

Cover

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Marco Hofheinz/Matthias Zeindler

Was heisst eigentlich «reformiert»?
Einleitende Bemerkungen zur Frage nach der re­formierten Identität und dem vorliegenden Buch­projekt

I. Reformierte Identität im Kontext der Krise der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Michael Weinrich

Karl Barth (1886–1968) – ein reformierter Reformierter
Theologie für eine durch Gottes Wort zu reformie­rende Kirche

Akke van der Kooi

Oepke Noordmans (1871–1956):
Reformierte Identität als Leben im Kraftfeld des Geistes

II. Reformierte Identität im Kontext von Natio­nalsozialismus und Kaltem Krieg

Hans-Georg Ulrichs

«Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland»
Reformierte Identität im Kirchenkampf und im Kalten Krieg: Wilhelm Niesel (1903–1988)

Matthias Zeindler

Reinhold Niebuhr (1892–1971):
«Christlicher Realismus» in Zeiten der Krise

III. Reformierte Identität im Kontext des ökumenischen und interreligiösen Dialogs

Wolfgang Lienemann

Reformierte Identität im Kontext der Öku­mene und des interreligiösen Dialogs:
Willem Adolf Visser ’t Hooft (1900–1985)

John G. Flett

Bischof J.E. Lesslie Newbigin (1909–1998) und
die missionarische Herausforderung konfessioneller «Identität»

IV. Reformierte Identität im Kontext politi­scher Transformationsprozesse

Ralf K. Wüstenberg

Reformierte Identität in Südafrikas politi­scher Transformation
Das Beispiel Chris­tiaan Frederick Beyers Naudés (1915–2004)

Meehyun Chung/Lisa J.M. Sedlmayr

Soon Kyung Parks (*1923) feministische Theologie als
koreanisches Beispiel reformierter The­ologie im 20. Jahrhundert

V. Reformierte Identität im Kontext der Her­ausforderungen durch die Naturwissen­schaften und die Moderne

Alasdair I.C. Heron

Thomas F. Torrance (1913–2007) als Repräsentant
der reformierten Theologie

Stefan Heuser

Letzte Ausfahrt Trinitätstheologie?
Colin E. Gunton (1941–2003) als Kritiker der Moderne

VI. Reformierte Identität im Kontext von Fe­minismus und jüdisch-christlichem Dialog

Margrit Ernst-Habib

Subversiv kirchlich – Letty Russells (1929–2007) Theolo­gie
und reformierte Identität

Marco Hofheinz

Reformierte als reformierende Theologie
Der Beitrag des reformierten Theologen Jür­gen Moltmann (*1926) zum jüdisch-christlichen und interreligiösen Dialog

Autorinnen und Autoren

Fussnoten

Seitenverzeichnis

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Vorwort

Reformierte Christinnen und Christen haben oftmals ein Problem mit ihrer konfessionellen Identität. Wenn man sie fragt, warum sie eigentlich «re­formiert» seien und was es grundsätzlich bedeute, «reformiert» zu sein, trifft man nicht selten auf verlegenes Schweigen. Angesichts dieser Ver­legenheit halten wir es für erforderlich, die Frage nach der reformier­ten Iden­tität neu zu thematisieren, und zwar so, dass der wissenschaftli­che Dis­kurs zugleich nach aussen dringt und fruchtbar gemacht wird für alle Interessierten, insbesondere aber für Theologiestudierende als zu­künf­tige Pfarrerinnen und Pfarrer, Religionslehrerinnen und Religions­lehrer. Dies soll in dem vorliegenden Band geschehen. Er versucht die Ant­worten nach­zuzeichnen, die prominente reformierte Theologinnen und Theolo­gen aus aller Welt im 20. Jahrhundert mit ihrem Leben, Werk und Wirken an­gesichts der Herausforderungen ihrer Zeit gegeben haben. Die skizzier­ten theologischen Profile zeigen die Bedeutung des weltwei­ten Reformier­tentums für Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahr­hundert.

Der vorliegende Band geht zurück auf ein im Frühjahrssemester 2011 an der Universität Bern im wöchentlichen Rhythmus (montags jeweils von 18.00–20.00 Uhr) angebotenes Vertiefungsseminar. Diese Veran­staltung traf auf ein grosses Interesse bei den Studierenden sowie Berner Pfarrerinnen und Pfarrern. Die methodische und thematische Anlage der Veranstaltung sah wie folgt aus: In jeder Sitzung haben Expertinnen und Experten jeweils das Porträt einer reformierten Theologin bzw. eines re­formierten Theologen präsentiert, die/der sich der Frage nach der refor­mier­ten Identität angesichts der besonderen Herausforderungen ih­rer/sei­ner Zeit in profilierter Weise gestellt hat. Nach jedem Referat erfolgte eine Besprechung, die des­sen jeweiligen thematischen «Brenn­punkt» zum Gegen­stand hatte. Auf jedes Thema bereiteten sich die Studierenden im Vor­feld anhand von Texten (zumeist Quellentexten), welche die Referen­tinnen und Referenten zur Verfügung stellten, gezielt und unter Bildung von «Expertenteams» vor. Sämtliche Referate sind in einer erweiterten und überarbeiteten Fas­sung in diesem Buch vereint. Das grosse Enga­ge­ment aller an dieser Ver­anstaltung beteiligen Personen, insbesondere das der Studierenden, hat uns dazu ermutigt, diesen Band zu publizieren.

Wir danken für vielfältige Anregungen, die wir insbesondere von den Professorinnen und Professoren Christine Lienemann-Perrin (Bern), Dar­rell Guder (Princeton), Frank Mathwig (Bern), Jürgen Moltmann (Tübin­gen) |8| und Georg Plasger (Siegen) erfahren haben. Im Blick auf die organi­sa­torische Durchführung des Seminars danken wir sehr für die Unter­­stützung durch unseren Berner Institutsdirektor, Prof. Dr. Thorsten Mei­reis, und die studentische Hilfskraft des Instituts, Frau Martina Häsler. Frau Raphaela Meyer zu Hörste und Herr Jens Heckmann haben uns bei den Korrekturen in verdienstvoller Weise unterstützt. In finanzi­eller Hinsicht wurde das Projekt ermöglicht durch den Schweizerischen Natio­nal­fonds (SNF). Für namhafte Druckkostenzuschüsse danken wir ferner­hin der Reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, dem Syno­dalrat der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und der Schweizeri­schen Reformationsstiftung, für geduldige verlegerische Betreuung Frau Lisa Briner vom Verlag TVZ.

Ein herzlicher Gruss geht mit diesem Band nach Göttingen zu Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Eberhard Busch, der dort soeben seinen 75. Geburtstag feiern durfte und der sich um das mit diesem Band verfolgte Anliegen wie kaum ein zweiter verdient gemacht hat.1

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Was heisst eigentlich «reformiert»?

Einleitende Bemerkungen zur Frage nach der re­formierten Identität und dem vorliegenden Buch­projekt

Marco Hofheinz/Matthias Zeindler

Die Frage nach der reformierten Identität ist virulent – auch und nicht zuletzt in der Schweiz. Aus den unterschiedlichsten Gründen tun sich viele äusserst schwer mit konfessioneller Identität:1 Sei es aus allgemeiner religiöser Indifferenz; sei es, dass sie reformierte Identität mit der jeweils eigenen vorfindlichen Kirchlichkeit gleichsetzen; sei es, dass sie konfes­sio­nelle Identität mit konfessioneller Spaltung2 und provinzialistischer Klein­­geisterei identifizieren und sie als eine Art Hemmschuh von Öku­mene,3 interkonfessioneller und interreligiöser Begegnung erachten;4 sei es, dass sie ein klares Profil und scharfe Konturen vermissen, da sich das Re­­formiertentum – anders als etwa das Luthertum oder der Katholizis­mus – nicht durch den Be­zug auf einen Bekenntniskanon wie das Kon­kor­dien­buch (1580) oder den Ver­­­weis auf den höchsten Würdenträger im Vatikan bildet. Es wäre ignorant, wollten Theologie und Kirche den Be­fund bezweifeln, dass viele Men­schen – bis in die Kreise der kirchen­treuen |10| Gemeindeglieder und der Theologiestudierenden hinein – nicht wissen, warum sie reformiert sind, bzw. was es überhaupt bedeutet, re­formiert zu sein. Eine zutreffende De­fi­nition des Wesens des Reformier­tentums und seiner Erscheinungs­wei­­sen bereitet grosse Schwierigkeiten.5 Dementsprechend schiessen viele Vorur­teile im Blick auf das Reformier­tentum ins Kraut.6 Man wird dies nicht verübeln dürfen, zumal sich diese Frage nicht eilfertig durch (histo­risie­rende) Verweise auf das historische Erbe und auch nicht aus der em­pi­rischen Erhebung eines Ist-Zustandes beantworten lässt.

Nun ist es keineswegs so, dass die Frage nach der reformierten Iden­tität eine völlig neue Frage darstellt,7 sondern vielmehr eine Frage, die be­reits seit dem sogenannten konfessionellen Zeitalter8 virulent ist und auch in den verschiedenen theologischen und gesellschaftlichen Kontexten des 20. Jahr­hunderts brisant wurde und zu neuen Antwortversuchen nötigte.9 So stellte etwa der Theologe Wilhelm Niesel in seiner viel­be­ach­­te­ten Schrift «Was heisst reformiert?»10 angesichts der Heraus­for­­derungen der |11| beginnenden nationalsozialistischen Herrschaft explizit diese Frage. Wenn man so will, zieht sich diese Frage wie ein roter Faden durch das gesamte 20. Jahrhundert und durch die verschie­denen Kon­tex­te, in denen jeweils neu theologisch explorierte und ge­schichtlich, kul­­­tu­rell und ge­sellschaft­lich vermittelte Antworten auf diese Frage gegeben wur­den. Der vor­liegende Band möchte diesen Antworten nachgehen und sie gleichsam in ihrem jeweiligen Kontext im 20. Jahrhundert aufsuchen.

Dies ist deshalb nötig, weil die Frage nach der konfessionellen Identi­tät nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext gestellt werden kann, in dem sich die jeweilige Identität ausprägt(e). Reformierte Identität bildet sich im Oszillieren zwischen aktuellen, situativ im jeweiligen Kon­text wahrgenommenen Herausforderungen, traditionellen Bindungen durch Kultur, Gesellschaft, konfessionelle Prägung und den lebendigen Be­zügen auf die normativ vorgeordnete Heilige Schrift Alten und Neuen Testa­ments.11 Reformierte Identität entsteht in dieser spezifischen We­chsel­wir­kung, gleichsam im spannungsreichen Wechselverhältnis von Text und Kontext,12 die als Begründungs- und Entdeckungszusammen­hang13 theo­logischer Erkenntnisse und Einsichten fungieren. Wer über die Iden­tität reflektiert, ohne dabei den Kontext, in dem sie gebildet wird, zu berück­sichtigen, gelangt unvermeidlich zu einem reduktiven, weil gleich­sam «ortlosen» Begriff von Identität und damit häufig zu gravierenden Miss­verständnissen |12| über sich selbst. Hingegen ist für die Identität die Ein­bin­dung in den Kontext von konstitutiver Bedeutung.14 Diese Einsicht bildet die hermeneutische Grundlage des vorliegenden Bandes.

Da das Reformiertentum, genauer: die reformierte Konfessionsfami­lie15 ein auf verschiedene Länder – wie etwa Südkorea, Südafrika, die USA und die Niederlande – bezogenes globales Phänomen darstellt,16 darf es nicht ausbleiben, die unterschiedlichen Kontexte auf verschiede­nen Kontinenten aufzusuchen. Dies ist auch aus einem weiteren Grund un­umgänglich, auf den Alasdair I.C. Heron aufmerksam macht:

«Schon der Begriff ‹reformiert› – wie etwa in ‹reformierte Kirche› oder ‹re­formierte Theologie› – ist mehrdeutig, je nach dem, in welchem Zu­sam­menhang bzw. von wem er verwendet wird. […] Die Assoziatio­nen und Resonanzen des Wortes ‹reformiert› haben die Eigenart, in ver­schiedenen Kontexten verschiedene Schwingungen zu erzeugen.»17

Die Pluralität der Kontexte ist bereits charakteristisch für die Entstehung der nach Gottes Wort reformierten Kirchen,18 insofern jene «ein plurales |13| Er­eignis»19 war. Das hat damit zu tun, «dass reformierte Gemeinden in heil­samer Weise gezwungen waren, ihren Glauben in Annäherung und Widerstand kontextuell zu bekennen und zu gestalten».20

Indes gilt dies nicht nur für die Genese, sondern auch die gegenwär­tige Gestalt der reformierten Kirchen – einschliesslich ihrer jeweiligen Be­kennt­nistradition und Denkbewegungen: Es geht im reformierten Pro­testantismus

«immer um Bekenntnis, Kirche, Gottesdienstgestaltung und Theologie im Plural. Diese weltweite Pluralität in den kirchlichen Gestaltungs­for­men und theologischen Denkbewegungen kann geradezu als ein We­sens­merkmal des reformierten Protestantismus betrachtet wer­den».21

Ein Einheitsbekenntnis22 ist dem reformierten Protestantismus ebenso fremd wie eine Einheitskirche oder eine Einheitsliturgie23. Ein reformier­tes |14| Bekenntnis und eine reformierte Kirche wie Liturgie gibt es nur im Plural. Das hängt damit zusammen, dass Bekennen und Gemeindebil­dung als tätiger Schriftgehorsam verstanden werden. So heisst es bereits im Berner Synodus von 1532:

«Wird uns aber von Pfarrern und von anderer Seite etwas vorgebracht, was uns näher zu Christus führt und was nach Massgabe des Gottes­worts allgemeiner Freundschaft und christlicher Liebe zuträglicher ist als die jetzt hier verzeichnete Meinung, so wollen wir das gern an­neh­men und dem Heiligen Geist seinen Lauf nicht sperren.»24

Dementsprechend verbirgt sich auch hinter dem Titel des vorliegenden Buches «Reformierte Theologie weltweit» nicht die homogene Gestalt einer Einheits- bzw. Normaltheologie, sondern ein pluriformes Spektrum. Ansichtig werden vielmehr ganz unterschiedliche theologische Profile, die wiederum aus ganz unterschiedlichen Kontexten stammen. Refor­mierte Theologie ist immer datierte Theologie. Es gibt sie nicht im Singu­lar. Sie ist und bleibt ein Pluraletantum.

Das genannte Vorgehen des Aufsuchens der verschiedenen Kontexte, das nötig ist, um «reformierte Theologie weltweit» in Augenschein zu neh­men, kann selbstverständlich nur exemplarisch erfolgen. Dies setzt den vorliegenden Band unvermeidlich dem Vorwurf der Willkür aus. Zur Subjektivität der Auswahl gesellt sich die ebenso unvermeidbare Lücken­haftigkeit der vorliegenden Sammlung hinzu. Die Beschränkung, die sowohl bezüglich der Kontexte als auch der einzelnen Vertreterinnen und |15| Vertreter besteht und im Blick auf die wir auf verständnisvolle Leserin­nen und Leser hoffen, schmerzt, da notwendigerweise wichtige theologi­sche Profile wie etwa die der Schweizer Martin Werner, Fritz Buri und Ulrich Neuenschwander oder die der Niederländer Hendrik Kraemer, Arnold A. van Ruler, Gerrit C. Berkouwer und Hendrik Berkhof unbe­rücksichtigt bleiben müssen, um nur einige Europäer zu nennen. Auch müs­sen hier die bisweilen als «neocalvinistisch» bezeichneten reformier­ten Aufbrüche vor dem Ersten Weltkrieg, die ein neues konfessionelles Interesse unter den Bedingungen der Moderne erkennen lassen (u. a. in den Niederlanden: Abraham Kuyper, Herman Bavinck; in Österreich: Eduard Böhl, Josef Bohatec; in Nordamerika: Benjamin B. Warfield; in Deutschland: Wilhelm Kolfhaus; in Frankreich: Auguste Lecerf), ausge­spart werden.25 Ein Anspruch auf Vollständigkeit wäre vermessen. So kön­nen nur einzelne Porträts bedeutsamer reformierter Theologinnen und Theologen gezeichnet werden, die sich in ihrem jeweiligen Kontext den jeweils aktuellen gesellschaftlichen und politischen Herausforderun­gen gestellt und die Frage nach reformierter Identität beantwortet ha­ben.26 Dabei wirkte der gesellschaftliche und kulturelle Kontext nicht nur auf ihre Theologie ein, sondern umkehrt wirkte auch ihre Theologie auf den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zurück. Auch in dieser Hin­sicht ist also eine Wechselwirkung zu beobachten. Berücksichtigt wer­den sollen im Einzelnen:

  1. im Blick auf den Kontext der Krise der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts die sogenannten Dialektischen Theologen Karl Barth aus der Schweiz und Oepke Noordmans aus den Nieder­lan­den;
  2. im Blick auf den Kontext von Nationalsozialismus und Kaltem Krieg der auf der Seite der Bekennenden Kirche Widerstand leis­tende deut­sche Pfarrer und spätere Präsident des Reformierten Weltbundes Wilhelm Niesel und der international renommierte ame­rikanische Theologe und Präsidentenberater Reinhold Niebuhr;
  3. im Blick auf den Kontext des ökumenischen und interreligiösen Dia­logs der erste Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kir­chen, |16| Wil­lem Adolf Visser ’t Hooft, sowie der Missionstheologe und in­dische Bi­schof J.E. Lesslie Newbigin;
  4. im Blick auf den Kontext politischer Transformationsprozesse in Südafrika (Kampf gegen den dortigen Rassismus/Apartheid) und in Südkorea der südafrikanische Theologe Christiaan Frederick Beyers Naudé und die südkoreanische Theologin Soon Kyung Park;
  5. im Blick auf den Kontext der Herausforderungen durch die Natur­wis­senschaften und die Moderne die beiden britischen Theolo­gen Thomas F. Torrance und Colin E. Gunton;
  6. im Blick auf den Kontext von Feminismus und jüdisch-christlichem Dia­log die nordamerikanische Theologin Letty Russell sowie der deut­sche Theologe Jürgen Moltmann.

Um noch einmal die Unvermeidlichkeit der Reduktion zu betonen und das Bedauern über die Beschränkung auf eine Auswahl zum Ausdruck zu bringen: Zweifellos hätten im Einzelnen auch andere Theologinnen und Theologen als Gewährsmänner und -frauen für die Wahrnehmung der kon­textuellen Herausforderungen herangezogen werden können, im Blick auf den Kontext des Kalten Krieges etwa Emil Brunner bzw. der tschechi­sche Theologe Jan Milič Lochman, oder etwa der französische Theo­loge George Casalis bzw. der deutsche Theologe Walter Kreck mit ihren Bei­trägen zum christlich-marxistischen Dialog oder im Blick auf die Her­aus­forderungen durch die Moderne etwa Nicholas Wolterstorff und Alvin Plantinga mit ihrer «reformed epistemology». Dasselbe gilt hin­sicht­lich des ökumenischen Kontextes beispielsweise für Oscar Cull­mann, Jean-Louis Leuba, Lukas Vischer und Dietrich Ritschl, ebenso wie im Blick auf den jüdisch-christlichen Dialog für Kornelis Heiko Miskotte und Hans-Joachim Kraus.27 Die Reihe der genannten Personen und Kon­texte liesse sich mühelos erweitern.

Alle in diesem Band präsentierten Profile vereint in charakteristischer Gemeinsamkeit, dass es sich jeweils um eine zugleich lage- und sachbe­wusste und eben in dieser Verschränkung datierte Theologie handelt. In der spezifischen Zuordnung beider Akzente variieren die verschiedenen |17| Entwürfe. Und im Blick auf einige Positionen ist die kritische Rückfrage un­vermeidbar, ob nicht die «Sache» der «Lage» untergeordnet, ihr Ver­hält­nis zueinander mithin nicht verkehrt wird, so dass die Theologie gleichsam a posteriori die vorab gebildete politische Position legitimiert. Eine streng sachbezogene Theologie vertraut hingegen darauf, dass Inhalt und Struktur der Theologie selbst gleichsam politische Hinweise enthal­ten. Demzufolge geht es sicherlich nicht einfach um eine Synthese von Sache und Lage, Text und Kontext, Theologie und Politik,28 sondern um nichts anderes als um eine konsequente Theologie, die gerade darum und gerade dort eminent politisch ist, weil und wo sie nicht anders als theolo­gisch sachgerecht arbeitet.29 In besonderer Weise hat dies Karl Barth ein­ge­­schärft, der nicht nur betonte: «Wo theologisch geredet wird, da wird im­plizit oder explizit immer auch politisch geredet»30, sondern auch ge­gen­über seinem Freund Josef L. Hromádka geltend machen konnte:

«Um was es mir […] ging und geht, ist schlicht dies: dass ich nun ein­mal, seit ich hier in der Schweiz meine Erfahrungen mit dem ‹religiö­sen Sozialismus› von Kutter und Ragaz machte, seit ich dann 1921 nach Deutschland kam und dort die Jahre 1933f. miterlebte, höchst al­lergisch reagierte gegen alle Identifikationen, aber auch gegen alle sol­che Parallelisierungen und Analogisierungen des theologischen und sozial-politischen Denkens, in welchen die Superiorität des analogans (des Evangeliums) gegenüber dem analogatum (den politischen An­sichten der betreffenden Theologen) nicht eindeutig, sauber und un­umkehrbar festgehalten und sichtbar bleibt.»31 |18|

Insgesamt soll mit dem vorliegenden Buch ein Panorama reformierter Theologie(n) entstehen, deren Vertreterinnen und Vertreter sich um einen kritisch-befreienden Dialog mit ihrer jeweiligen Zeit bemühten und neue theologische Perspektiven sowohl für die theoretische als auch praktische Orientierung in den jeweils aktuellen Herausforderungen eröffnen woll­ten. Ein solches Panorama, das zugleich ein Prisma der Zeitgeschichte dar­stellt, kann – wie gesagt – nur anhand einer Reihe von Querschnitten durch die mannigfaltigen Ausprägungen reformierten Theologie im 20. Jahr­hundert gewonnen werden. Das Denken der hier vorgestellten Theolo­ginnen und Theologen spiegelt die Weite und den grossen Reich­tum an theologischen Orientierungen und Denkstilen wider, welche den refor­mier­ten Protestantismus kennzeichnen.32 Der vorliegende Band inten­diert, eine theologische und zeitgeschichtliche Begegnung mit kultu­rell und gesellschaftlich-politisch «Anderem» bzw. «Fremdem» an­zubah­­nen. Solch eine Begegnung ist im Blick auf die Frage nach der eigenen Identität unabdingbar, gilt doch die grundlegende hermeneuti­sche Ein­sicht: «Nur im Spiegel der ‹anderen› bekommen wir unsere Iden­tität zu Gesicht.»33

Identitätsbildung entsteht also nicht einfach durch Abgrenzung, son­dern im Gespräch mit den anderen Konfessionen. Gerade weil im refor­mierten Protestantismus das Gemeinsame inmitten aller Pluralitäten, der pulsierende Herzschlag in allen Differenzierungen in der Bindung der Kir­che an das Wort Gottes als lebendiger Kraft des Evangeliums (Röm 1,16) besteht, wird er das Gespräch und den Dialog mit den ande­ren, ebenfalls um das Hören des Wortes Gottes ringenden Konfessionen suchen und führen.34 Die ökumenische Ausrichtung ist «ein Akt konfessio­nell gebo­tener Selbstentsprechung»35: Weil sich das reformierte Bekenntnis als Schriftgehorsam versteht,36 erkennt es den Vollzug von Schriftgehorsam |19| in anderen Kirchen an.37 Reformierterseits meint konfessi­onelle Identität immer auch ökumenische Identität.38 Es gibt keine konfessionelle neben einer ökumenischen Identität.39 Insofern wird man Otto Webers wegwei­sen­de Bemerkung zum Vorwurf der Unionsfreudig­keit der Reformierten auch auf deren Verhältnis zur Ökumene übertragen können und müssen: «Wir können nicht aufhören, für die Union einzu­treten, weil wir sonst aufhören würden, reformiert zu sein. Das heisst, das Wort Gottes über alle kirchlichen Behauptungen zu stellen.»40 Die porträ­tierten Theologin­nen und Theologen haben je auf ihre Weise versucht, dem die Kirche im Sinne des semper reformanda41 reformierenden Wort Gottes42 Raum zu ge­ben.43 |20| Diese Intention wird man ihnen ebenso wenig absprechen dür­fen, wie man kritische Rückfragen hinsichtlich des Gelingens ihrer je­wei­ligen Um­setzung dieser Intention unterlassen sollte. Denn an dieser Inten­tion kann man auch heute die unterschiedlichen Lehrgestalten refor­mier­ter Theo­logie messen. Das semper reformanda weist Theologie und Kirche den Weg.

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I.
Reformierte Identität im Kontext der Krise der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts

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Karl Barth (1886–1968) – ein reformierter Reformierter

Theologie für eine durch Gottes Wort zu reformie­rende Kirche

Michael Weinrich

Vor allem in Deutschland wurde Karl Barth von seinen Kritikern immer wie­­­der mit dem Stigma seines Re­for­mier­tentums etikettiert – beson­ders in­­ten­siv zur Zeit des Kirchen­kamp­fes. Häufig wurde damit zu­min­dest indirekt eine grundsätzli­che Dis­qua­­lifikation annonciert, die Grund ge­nug war, Barth gegenüber einen prin­zi­piellen Abstand zu wah­ren. Gleich­zei­tig befand sich Barth in einer durch­aus bemerkenswerten Kons­tanz gerade auch mit den Re­formier­ten in einer kritischen Auseinan­der­set­­zung – und das keineswegs nur am Rande. Von beiden Seiten schlug ihm Skepsis entgegen, die zwar sehr un­ter­­­schied­lich begründet war, aber in jedem Fall mit dem reformierten Profil seiner Theologie zu tun hatte; was den einen (in der Regel ohne nähere Benennung der problematischen Aspekte) zu reformiert war, erschien den anderen zu wenig reformiert, weil die spezifische Prägekraft der reformierten Tradition zu wenig her­ausgestellt werde (Barth liess jeden reformierten Stallgeruch vermissen). Bei aller Unterschiedenheit waren beides mehr gefühlte als tatsächlich ausgewiesene Vorbehalte. Tatsächlich aber wirkte Barth, verglichen mit den geltenden kon­fessio­nel­len Verlässlichkeiten, wie ein programmatisch agieren­des unregelmäs­siges Verb, indem er nicht nachliess, die überkom­mene Regelmässigkeit in den theologischen Deklinationen anzu­greifen. |24| Barth attackiert die Harmlosigkeit gewohnheitsmässigen Theolo­gietrei­bens, das mit den üblichen Regelmässigkeiten verbunden ist und eben dann in der Regel auch nur zu mässigen Einsichten führt.

Die angedeutete diffuse Gemengelage legt die Frage nahe, wie es sich nun tatsächlich mit Barths Beziehung zur reformierten Tradition verhält. Ist Barth im konfessionellen Verständnis ein reformierter Theologe und wenn ja, in welchem Sinne ist er es? Der erste Teil der Frage wird sich relativ einfach beantworten lassen, während eine Antwort auf den zwei­ten Teil der Frage durchaus mit einigen Schwierigkeiten verbunden ist.

Immerhin wurde Barth 1921 ausdrücklich für die reformierte Theolo­gie von seiner Schweizer Pfarrstelle an die Theologische Fakultät in Göt­tingen berufen, nicht zuletzt unter dem Einfluss des profunden Kenners der reformierten Bekenntnisschriften in Erlangen, Ernst Friedrich Karl Müller (1863–1935). Es wurde von Barth erwartet, dass er insbesondere den reformierten Studierenden das spezifische Profil der reformierten Theologie lehren solle, wozu er als Mitglied einer reformierten Kirche in der Schweiz als besonders prädestiniert angesehen wurde. Barth hinge­gen war zwar Mitglied einer reformierten Kirche, weil in der Schweiz die protestantische Kirche eben vorzüglich reformiert ist, aber er sah sich nun durch den Ruf nach Göttingen seinerseits das erste Mal dazu herausge­fordert, sich in substantiell vertiefter Weise mit der reformierten Tradi­tion auseinanderzusetzen, um schliesslich auch für sich selbst eine Ant­wort auf sein Verhältnis zur reformierten Tradition zu finden. In der volks­kirchlichen Mehrheitssituation der Schweiz war offenkundig auch für Barth die reformierte Tradition die selbstverständlich hingenommene geschichtliche Prägung seiner Kirche, die er in ihrem Alltag von anderen Fragen in Atem gehalten sah als von ihrem konfessionellen Profil.1 Das änderte sich grundlegend mit dem Wechsel nach Göttingen. Barth war nun zu differenzierter akademischer Auskunft über die reformierte The­o­logie herausgefordert und hat diese Herausforderung auch entschlossen und intensiv angenommen. |25|

Barth hat dabei einen ganz eigenen Weg eingeschlagen, auf dem er sich zwar auf verschiedene Leitmotive der reformierten Tradition beruft, die er aber ausdrücklich einem reformierten Traditionalismus mit seinen konfessionalitischen Neigungen entgegenstellt.2 Wenn Barth sich auf die reformierte Tradition bezieht, will er konsequent als ein Theologe evan­gelischer Freiheit verstanden werden, der sich um eine unter den gegen­wärtig gegebenen Umständen einzunehmende Position bemüht. Das möch­te ich an drei ausgewählten Beispielen ein wenig illustrieren. Zu­nächst möchte ich mich mit Barths Verhältnis zum Bekenntnis beschäfti­gen (1.). Sodann soll mit einigen Andeutungen Barths besonderes Ver­ständnis des Wortes Gottes angesprochen werden, das die Theologie einer­seits zu einer prinzipiellen Vorbehaltlichkeit nötigt – dafür steht der bleibend dialektische Charakter seiner Theologie – und andererseits ihr eine Freiheit eröffnet, hinter der sie in ihren geschichtlichen Koalitionen und mit ihren ängstlichen Zögerlichkeiten faktisch in beschämender Per­manenz zurückbleibt (2.). Schliesslich möchte ich mich einer unbeachteten Platzanweisung zuwenden, die Barth für die Reformierten in der Öku­mene gleichsam als eine konkrete Konsequenz der Freiheit im Auge hatte (3.). Zum Schluss wird dann eine vorläufige Bilanz gezogen (4.).

1. Von der Besonderheit des Bekenntnisses

Ausweislich des Protokolls der Sitzung der Göttinger Theologischen Fa­kultät am 12. Mai 1921 wird Barths Lehrtätigkeit ausdrücklich auf die «Einführung in das reformierte Bekenntnis, reformierte Glaubenslehre und reformiertes Gemeindeleben» beschränkt.3 Barth musste sich also unweigerlich intensiv mit dem reformierten Bekenntnis und seiner Tradi­tion |26| beschäftigen. Gleich in seinem ersten Semester hält Barth eine Vorle­sung über den Heidelberger Katechismus. Es folgen Vorlesungen über Calvin4 und Zwingli5 und im Sommer 1923 eine Vorlesung über die Theolo­gie der reformierten Bekenntnisschriften6. In dieser Zeit erwirbt Barth nicht nur umfängliche Kenntnisse über das reformierte Bekenntnis und die reformierten Bekenntnisse, sondern er bestimmt zugleich auch sein eigenes Verhältnis zur reformierten Tradition und erarbeitet sich ein eigenes Verständnis von der Bedeutung und Reichweites eines Bekennt­nisses einschliesslich der damit verbundenen Konsequenzen. Das bedeu­tet weniger, dass er nach seinem persönlichen Zugang zu den Bekennt­nissen fragt, wohl aber, dass er konsequent die Forderung erhebt, dass es nicht allein darum gehen könne, die reformierten Bekenntnisse zu pfle­gen, sondern auch die Art und Weise dieser Pflege habe eine reformierte zu sein. Es reiche nicht aus, die reformierten Bekenntnisse in Ehren zu halten und sich an ihnen zu orientieren, sondern es komme auf einen seinerseits ausdrücklich reformierten Umgang mit ihnen an, der sich durchaus von dem lutherischen Umgang mit den Bekenntnissen unter­scheidet.

Ich möchte dies an einem konkreten Beispiel veranschaulichen. Ge­rade weil es in diesem Beispiel um die Frage eines erst zu formulierenden Bekenntnisses geht, wird an ihm besonders deutlich, was für Barth mit einem Bekenntnis auf dem Spiele steht. Am 30. Juni 1924 erhielt Barth vom Generalsekretär des Reformiertes Weltbundes, John Robert Fleming, die offizielle Anfrage, ob er bereit wäre, in einem Vortrag auf der zwölf­ten Generalversammlung 1925 in Cardiff auf die Frage zu antworten, ob eine gemeinsame Glaubenserklärung bzw. Bekenntnis für die reformier­ten Kirchen der Welt wünschenswert und möglich sei.7 Das ist eine Frage, |27| die den Reformierten Weltbund schon länger bewegt hat und offenkun­dig bis heute immer wieder aufbricht, wenn erneut nach der reformierten Identität gefragt wird.8

In der veröffentlichten Langfassung des Vortrags formuliert Barth fol­gende konzise Definition für ein Bekenntnis im reformierten Verständnis:

«Ein reformiertes Glaubensbekenntnis ist die von einer örtlich um­schrie­benen christlichen Gemeinschaft spontan und öffentlich formu­lier­te, für ihren Charakter nach aussen bis auf weiteres massgebende und für ihr eigenes Lehren und Leben bis auf weiteres richtungge­bende Darstellung der der allgemeinen christlichen Kirche vorläufig ge­schenkten Einsicht von der allein in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung Gottes in Jesus Christus.»9

Beim einmaligen Hören lassen sich die vielen Aspekte kaum fassen, die in dieser kompakten Definition stecken. Da stehen relativierende Aspekte (örtlich, bis auf weiteres, vorläufig geschenkte Einsicht) neben anderen, in denen die Verbindlichkeit annonciert wird (massgebend, richtunggebend, allgemeine christliche Kirche). Das entscheidende Kriterium wird am Schluss genannt: die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie in der Heiligen Schrift bezeugt wird – eine Assoziation zu der ersten These der einige Jahre später verabschiedeten Barmer Theologischen Erklärung drängt sich geradezu auf. Doch bevor wir auf die theologische Kri­teriologie zu sprechen kommen, wollen wir uns zunächst mit den äus­seren Anforderungen beschäftigen, unter denen sich für Barth die For­mulierung |28| eines Bekenntnisses als sinnvoll und dann eben auch als not­wendig darstellt.

Die entscheidende Anforderung ist die, dass ein Bekenntnis konkret sein muss. Aus dieser Anforderung leiten sich im Grunde alle weiteren Anforderungen ab. Was aber meint hier «konkret»? Um dies näher erfas­sen zu können, müssen wir uns den spezifischen Akzent ansehen, den Barth für das reformierte Kirchenverständnis reklamiert. Gewiss gilt für die Kirche entschieden, dass sie eine über die ganze Erde verstreute und somit im substantiellen Sinne eine katholische, d. h. universale Kirche ist. In ihr wird auf das Wort Gottes gehört, geglaubt, geliebt und gehofft, ohne dass es eine Rolle spielt, wie weit die Glieder dieser Kirche vonei­n­ander entfernt sind. Für das tatsächliche Leben der Kirche kommt es aber entscheidend darauf an, dass die Kirche nicht nur hört, sondern die im Hören sich ihr erschliessende Freiheit ergreift und auf das Gehörte antwortet. Sie bekennt nun ihrerseits, was sie gehört hat und was es des­halb unter ihren konkreten Bedingungen zu bezeugen gilt.

Eine recht hörende Kirche wird notwendig zu einer bekennenden Kir­che. Das Bekenntnis ist dabei wohlgemerkt nicht das Sammelgefäss der Wahrheit Gottes, in dem die Kirche nun diese Wahrheit aufbewahrt, son­dern die jeweils von der Kirche und somit von auch fehlbaren Menschen zu gebende Antwort – Barth nennt es auch eine «Empfangsbestätigung»10. Zwar bezieht sich das Bekennen auf das, was Gott gesagt hat, es formu­liert aber das, was der Mensch gehört hat und ist insofern konsequent vom Wort Gottes zu unterscheiden. Es steht nicht für die Aktion Gottes, sondern ist die Reaktion des Menschen, mit der er kundgibt, dass er et­was vernommen hat, was sein Leben in einen neuen Horizont versetzt und somit Folgen für seine Wahrnehmungen der Wirklichkeit hat.

Solches Antworten vollzieht sich jedoch nicht in einer die ganze Welt umspannenden Allgemeinheit – es ergeht sich nicht in einer immer auch problematischen Zusammenstellung von Richtigkeiten –, sondern immer nur in einer konkreten geschichtlichen Situation, in einem benennbaren Lebenszusammenhang, unter einigermassen überschaubaren Umständen. Gott steht kein abstrakter Mensch gegenüber, sondern immer nur kon­krete und somit durchaus unterschiedliche Menschen, die von Gott in |29| ihren unterschiedlichen Situationen angesprochen werden und nun ihrer­seits darauf reagieren. So wie die Rede von «dem Menschen» eine Ab­strak­tion darstellt11, so kann auch die Rede von der Kirche zu einer Abstrak­tion werden, wenn dabei nicht die konkrete Kirche im Blick ist, in der man sich jeweils befindet.12 Darin sieht Barth ein zentrales Element der reformierten Ekklesiologie.13 In dem hier gemeinten Antworten geht es im umfassenden Sinn um das Handeln der Kirche, welches eben immer auch Entscheidung voraussetzt – nicht Entscheidung zum Glauben, son­dern Entschiedenheit und Entscheidung im Glauben.14

Wenn das Handeln der Kirche tatsächlich die Lebensumstände der Menschen tangieren soll, wird es das Handeln einer benennbaren Ge­meinde bzw. lokalen Kirche sein müssen. Die Verabschiedung des corpus christianum durch die reformierten Reformatoren brachte nicht nur beiläu­fig, sondern durchaus entschlossen ein gewisses kongregationalistisches Ferment mit sich, das sich in Barths Kirchenverständnis deutlich zurück­meldet, nicht als Zurückweisung des Motivs der Universalität der Kirche, wohl aber als Schutzwall gegen die Versuchung, sich mit mehr oder we­niger verbindlichen Allgemeinheiten zufrieden zu geben. In dem lutheri­schen Festhalten am mittelalterlichen corpus christianum diagnostiziert Barth einen vor allem politisch motivierten «rückwärts orientierten Sinn»15.

Die deutliche Relativierung von ökumenischen Bekenntnissen für die Gesamtkirche zielte nicht auf eine Schwächung der Katholizität der Kir­che, sondern stand im Gegenteil gerade im Zeichen ihrer Konkretisie­rung. In diesen Sinne ist es zu verstehen, wenn es an anderer Stelle bei Barth heisst: «Der legitime Weg zur Universalität ist hier also gerade die Partikularität.»16 Auch die Katholizität bedarf der Konkretisierung und ist |30| eben nicht ein Rückzugsraum für vom Leben der Ortskirche unberühr­bare Wahrheiten. Das Bekennen der Kirche bliebe weit unter dem zu er­wartenden Niveau, wenn es die Kirche dabei belassen wollte, der Welt ein paar immer richtige Einsichten oder Forderungen zuzurufen, die im besten Fall damit rechnen können, freundlich zur Kenntnis genommen zu werden. Wenn Barth von der «unerbittlichen Konkretheit des reformier­ten Kirchenbegriffs» spricht17, tritt er der gerade von den Kirchen so gern ergriffenen Flucht in die Unverbindlichkeit entgegen.

Das Bekenntnis im Sinne des angesprochenen Antwortens ist weniger öffentliche Verlautbarung oder Deklaration, als vielmehr «Akt, Ereignis, Handlung»18. Die Universalität der Kirche gibt es grundsätzlich nicht anders als örtlich, und da ist sie eben auch zur Geltung zu bringen, nicht als eigenwillige Individualpräsentation, sondern in einer vor der ganzen Kirche zu verantwortenden konkreten Gestalt. Deshalb betont Barth auf der einen Seite die Partikularität: «Wir, hier, jetzt – bekennen dies!» und hält diese aber stets auf der anderen Seite mit dem Anspruch verbunden, eben dies im Namen der einen Kirche zu tun.19 Für Barth ist das Bekennt­nis in reformierter Perspektive «[u]niversal-christliche Wahrheit, aber jetzt und hier in bestimmter Weise erkannt und ausgesprochen von einer christlichen Gemeinde».20

Eine letzte Anforderung, die Barth für ein Bekenntnis der Kirche er­hebt, besteht in seiner Dringlichkeit, die keineswegs immer gegeben ist, der aber da, wo sie gegeben ist, nicht ausgewichen werden darf. Vielmehr hat sich die Kirche in diesem Fall entschieden und öffentlich zu positio­nieren. «Jedes andere Credo ist ein fauler Zauber und vom Teufel, und wenn es wörtlich das Apostolikum wäre», heisst es provokant.21 Ein sol­ches in der Bedrängnis gesprochenes Bekenntnis fällt nicht einfach vom Himmel, sondern ihm geht ein ernsthaftes Ringen um seine Angemes­senheit und Deutlichkeit voraus.

«Vor einem Bekenntnis ohne charakteristische biblische Einsichten, ohne Narben vorangegangenen Kampfes, ohne notwendiges Anliegen, |31| vor einem dogmatisch bedeutungslosen, wohl gar bedeutungslos sein wollenden Bekenntnis, davor behüte uns, lieber Herre Gott!»22

Deshalb ist es auch mit der Rezitation der alten Bekenntnisse nicht getan, wenn nicht zumindest ein authentischer Kommentar dazu gegeben wird. Die ungeprüfte Wiederholung bereits von der Kirche formulierter Ein­sichten, also eine rein traditionsgebundene Orthodoxie stellt Barth später sogar unter den Verdacht der Häresie.23 Es kann nicht darum gehen, dass die Kirche zu jeder Gelegenheit und zu Allem das Wort erhebt, sondern dass sie da, wo sie aufgrund ihrer Bindung an das Wort Gottes das Wort er­heben muss, dies auch in der ihr gegebenen Freiheit und Deutlichkeit tut.

Dieser Dringlichkeit, ja Unausweichlichkeit entspricht dann auf der anderen Seite auch die Verbindlichkeit. Gewiss auch nur «vorläufig», d. h. «bis auf weiteres» – wie es in der zitierten Definition geheissen hat –, jetzt aber gilt es, d. h. es ist für die Kirche «richtunggebend»24. In diesem Sinne formuliert das Bekenntnis eine Wahrheit, von der man sich nicht einfach abkehren kann, ohne sich nicht zugleich von der Kirche insgesamt abzuwenden. Es geht um Dogmatik im Vollzug: Dogmatik, indem die Angemessenheit des Gotteszeugnisses der Kirche zur Debatte steht, aber eben im Vollzug, weil das Gotteszeugnis von einer konkreten Situation herausgefordert wird, auf die es auch bezogen ist. 25

Das, was Barth hier mit seinen Ausführungen für den Reformierten Weltbund zu bedenken gibt, findet dann acht Jahre später in der Barmer |32| Theologischen Erklärung, an der Barth bekanntlich massgebend beteiligt war, seinen exemplarischen Ausdruck. Alle Anforderungen, die Barth an ein Bekenntnis im reformierten Sinne stellt, lassen sich hier in pointierter Weise demonstrieren, was jetzt nicht weiter vertieft werden soll.

Barth kann sich auch eine Beschäftigung der Kirche mit ihren Be­kenntnissen vorstellen, über die sie das eigene Bekennen versäumt. Ange­sichts seiner Bewertung der Verabschiedung des Barmer Bekenntnisses als ein Wunder26 wird man davon ausgehen können, dass dies in seinen Augen wohl eher die Regel als die Ausnahme ist. Deshalb ist hervorzu­heben, dass es bei der Frage nach dem rechten Bekenntnis entschieden nicht um die Verwaltung und Vergegenwärtigung eines bereits erworbe­nen Lehrbestandes gehen kann. Nicht die konfessionell reformierten Be­kenntnisse haben Barth geprägt, so sehr er sie im Einzelnen durchaus geschätzt hat, sondern die reformierte Affinität zum Bekennen als einer Fundamentalbestimmung der Kirche. An die Stelle des Konfessionellen rückt das Konfessorische. Wenn es darauf ankommt, Barth mit der refor­mierten Tradition in Beziehung zu setzen, wird wohl dieses von ihm her­ausgestellte dynamische Prinzip in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden müssen. Jede andere Bindung an das Reformiertentum würde Barth wohl als im eigentlichen Sinne unreformiert bezeichnen.

2. Wort Gottes und Freiheit

Als inhaltliches Kriterium für ein Bekenntnis nennt Barth in der zitierten Definition die «allein in der Heiligen Schrift bezeugte Offenbarung Gottes in Jesus Christus». Die erste Wahrheit des Barmer Bekenntnisses27 nennt als einzigen Bezugspunkt für theologische Einsichten «Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird» als «das eine Wort Gottes», das «Quelle ihrer [sc. der Kirche] Verkündigung» ist. In formaler Hinsicht ist das gemeint, was Barth in den 1920er Jahren noch das Schriftprinzip nennt. |33| Inhaltlich geht es um sein differenziertes Verständ­nis des Wortes Gottes.

Damit kommt ein Grundzug der Theologie Barths in den Blick, der seiner Theologie ihr charakteristisch dialektisches Gepräge gegeben hat, nicht nur in den 20er Jahren, sondern mit einigen Akzentverschiebungen bis hinein in die letzten vorliegenden Fragmente seiner unvollendeten Kirchlichen Dogmatik28. Lieber als von der reformierten Kirche sprach er von der durch Gottes Wort reformierten Kirche.29 Auch wenn es offen­kun­dig zu sein scheint, was Barth damit meint, kommen wir mit der Frage nach dem Verständnis des Wortes Gottes zu dem sensiblen Kern seiner Theologie, der in diesem Rahmen nur angedeutet werden kann. Das eben zitierte Barmer Bekenntnis weist auf drei Dimensionen des Wortes Gottes: Jesus Christus, das biblische Zeugnis und die Verkündi­gung der Kirche. In den Prolegomena seiner Kirchlichen Dogmatik entwi­ckelt Barth über die Lehre von der dreifachen Gestalt des einen Wortes Gottes seine für alle theologische Erkenntnis grundlegende trinitarische Hermeneutik – beginnend mit dem verkündigten Wort über das ge­schriebene Wort und das offenbarte Wort schliesslich zur Hervorhebung der Einheit des Wortes Gottes.30 Er übernimmt damit die in umgekehrter |34| Reihenfolge gemachte Distinktion Offenbarung – Schrift – Lehre (Pre­digt), wie sie für diverse reformierte Bekenntnisse charakteristisch ist.31

Die entscheidende Pointe besteht nun darin, dass in allen drei Gestal­ten des Wortes Gottes dieses nicht einfach greifbar zur Verfügung steht. So sehr sich Gott in seinem Wort offenbart, so sehr hält er sich in ihm zugleich verborgen.32 So sehr sich auf sein Wort verweisen lässt, so wenig ist es einfach offenkundig. Wo sein Wort in Erscheinung tritt, ist es nicht in dem Sinne offensichtlich, dass sich jeder gleichsam unwidersprechbar darauf berufen könnte. Dass es sich um sein Wort und eben nicht um eines unserer Worte handelt, kann er nur selbst zeigen. Auch im Blick auf das inkarnierte Wort, auf das es Barth entscheidend ankommt, ist das nicht anders: Der Blick auf Jesus gibt nicht von sich aus den Christus zu erkennen.

Das Wort Gottes erschliesst sich konsequent nur dann, wenn Gott selbst das Subjekt der Erkenntnis ist. Offenbarung wird also nicht als eine in der Vergangenheit anzusiedelnde Selbstvergegenständlichung Gottes verstanden. Barth verweist ausdrücklich auf die reformierte Lehre vom Heiligen Geist33, um zu unterstreichen, dass Offenbarung die conditio sine qua non für alle theologisch orientierende Erkenntnis bleibt. Sie ist keine feststehende Tatsache, der sich nicht mehr widersprechen lässt, sondern ein Geschehen, ein Ereignis, das von den Spuren, die hinterlassen wur­den, niemals auch nur annähernd festgehalten werden kann. Das Wort Gottes ist keine handhabbare Grösse. Ihm eignet eine in der Lebendigkeit Gottes gründende eigene Dynamik, in der es immer wieder neu gehört werden will. |35|

Hier kommt Barths kritische Auseinandersetzung mit der sogenann­ten natürlichen Theologie in den Blick. Sie ist nicht nur – wie jetzt Ger­hard Sauter annonciert hat34 – eine den besonderen historischen Heraus­forderungen geschuldete Überpointierung, sondern hat prinzipiellen Charakter.35 Die konsequente Offenbarungstheologie Barths ist m. E. als ein stringentes Zu-Ende-Denken des bereits von den Reformatoren für die Theologie als grundlegend festgehaltenen hermeneutischen Zirkels anzu­sehen, auf den man im Laufe der theologischen Erkenntnisarbeit unwei­gerlich an irgendeiner Stelle stösst. Indem Barth herausstreicht, dass dies nicht an irgendeiner Stelle geschieht, sondern bereits grundsätzliche Voraussetzung jeder theologischen Erkenntnis überhaupt ist, wird die Theologie in eine unabschüttelbare Verlegenheit versetzt, die sie dazu nötigt, sich in all der geforderten Entschlossenheit doch zugleich eine prinzipielle Vorbehaltlichkeit aufzuerlegen, in der sie sich ganz und gar auf den Selbsterweis des von ihr bezeugten lebendigen Gottes verwiesen weiss.

Diese Vorbehaltlichkeit wird bereits in den immer wieder zitierten Leitsätzen von Barths unter anderem auch vor reformiertem Publikum gehaltenen Vortrag «Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie» (1922) angemeldet: «Wir sollen von Gott reden» – «Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden» – «Wir sollen beides, dass wir von Gott reden sollen und nicht können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.»36 Wie Barth später verdeutlicht, liegt es allerdings nicht allein an unserer Menschlichkeit, dass wir nicht von Gott reden können, sondern vor allem an der Dynamik des lebendigen Gottes, der zwar nicht immer ein anderes Wort, wohl aber sein Wort immer wieder neu sagt, so dass nur da angemessen von Gott geredet wird, wo auf das aktuell erge­hende Wort Gottes geantwortet wird.

Gewiss können wir es lernen, uns in unseren Traditionen zu bewegen und diese dann auch in theologischen Disputen zu verteidigen oder zu |36| relativieren, aber es gibt in keiner Tradition ein Wahrheitsprivileg, weil wir von uns aus weder einen Zugang zur Wahrheit noch eine Verwal­tungshoheit über die Wahrheit haben.37 Das hat durchaus weitreichende Konsequenzen etwa für die Ökumene bis hinein in den heute so wichtig gewordenen interreligiösen Dialog, wenn Barth so konsequent die Wahr­heit auf der Seite Gottes belässt und sie davor schützt, zu einer Disponib­len des Menschen zu werden. Sie bleibt im Horizont der Erwählung Got­tes und verschafft sich darin Geltung, dass Gott eben auch heute erwählt, beruft und sendet38 – nicht zur Traditionsweitergabe, sondern zum Zeug­nis von der befreienden Versöhnung, durch welche der Mensch aus den Bindungen der alten Welt entnommen ist, so dass er den von diesen Bin­dungen nach wie vor ausgehenden Ansprüchen im aufrechten Gang ent­gegentreten kann.

Wenn Barth 1923 in seinem Vortrag auf der 19. Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Emden die Reformierten dazu aufruft, das Zeugnis der Schrift doch erkennbarer in die Mitte ihres Selbstverständnis zu rücken, möchte er davor warnen, «die Frage der Lehre […] als ‹ir­gendwie› schon gelöst […] vorauszusetzen»39. Traditionalismus ist – poin­tiert gesprochen – mangelnde Ernsthaftigkeit, weil der in ihm liegende theo­logische Narzissmus der theologischen Aufmerksamkeit und Er­wartung im Extremfall so enge Grenzen setzt, dass es nur noch zur Selbst­bestätigung kommt. «Mit der Liebe des Antiquars, […] des religiö­sen Heimatschützlers, des Freundes reformierter Art, weil sie reformiert ist, kann gerade der reformierten Kirche auf keinen Fall gedient sein.»40 Viel­mehr konzentriert Barth die ganze reformierte Tradition auf die an­haltende konstitutive lebendige Beziehung zum seinerseits lebendigen biblischen Zeugnis: Es «gibt […] streng genommen keine reformierte Tra­dition |37| ausser der einen zeitlosen: dem Appell an die offene Bibel und an den Geist, der aus ihr zum Geiste redet.»41 Nur wenn der prinzipiell sekun­däre Charakter der theologischen Lehre konsequent im Bewusstsein steht, hat dieser Appell eine Chance, ernst genommen zu werden. «Ein Dogma im strengen hierarchischen Sinn kennt die reformierte Kirche also gerade nicht42 Und so verwundert es auch nicht, wenn Barth später in den Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik die Methode der Dogmatik vor allem in diesem grundsätzlichen Sich-Offenhalten gegenüber dem theologischen Altbesitz sieht43.

Damit wird wohlgemerkt nicht die theologische Lehre diskreditiert444546|38|47