Christentum und Kultur

Basler Studien zu Theologie und Kulturwissenschaft des Christentums
Herausgegeben von
Albrecht Grözinger, Georg Pfleiderer und Ekkehard W. Stegemann

I

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III

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VII

VIII

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XI

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XIII

XIV

XV

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Christentum und Kultur: Übersicht über die bisher erschienenen Bände

Titel

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Georg Pfleiderer und Harald Matern
Dialektische Theologie als Theologie der Krisen der Moderne. Einleitung in den Band

Theologie im Horizont der Krise des Ersten Weltkriegs

Hans-Anton Drewes
«Abwechselnd über der Zeitung und dem Neuen Testament brütend». Themen und Probleme in Barths «Vorträgen und kleineren Arbeiten 1914–1921»

Regina Wecker
Der Anfang des 20. Jahrhunderts und die Schweiz: Versuch einer historischen Situierung der Schriften von Karl Barth

Andreas Pangritz
Neuer Bericht über Karl Barths «Sozialistische Reden»

Georg Pfleiderer
Progressive Dialektik. Zur Entwicklung von Karl Barths theologischem Denken im Zeitraum des Ersten Weltkriegs

Harald Matern
Geschichte und Eschatologie in Karl Barths «Römerbrief» (1919)

Bruce L. McCormack
Longing for a New World: On Socialism, Eschatology and Apocalyptic in Barth’s Early Dialectical Theology

Dirk Smit
Barths Krisentheologie in Kontexten radikaler Transformation lesen? Eine südafrikanische Reflexion |6|

Theologie im Horizont der Kulturkrise nach dem Ersten Weltkrieg: Der «Römerbrief» von 1922

Cornelis van der Kooi
Der «Römerbrief». Ein Jahrhundertbuch in neuer Edition

Folkart Wittekind
Expressionismus und religiöse Kunst – eine zeitgenössische Debatte als Hintergrund von Barths zweitem «Römerbrief»

Ausblick: Theologie im Horizont der durch den autoritären Staat erzeugten politischen Krise

Michael Hüttenhoff
Kirchliche Opposition im Streit. Zu Vorgeschichte, Inhalt und Wirkung eines Vorworts

Autorin und Autoren

Fussnoten

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich

ISBN 978-3-290-17755-3 (Buch)
ISBN 978-3-290-17845-1 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf den Beginn der jeweiligen Seite der gedruckten Ausgabe.

© 2014 Theologischer Verlag Zürich
www.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Georg Pfleiderer, Harald Matern (Hg.)

Theologie im Umbruch der Moderne

Karl Barths frühe Dialektische Theologie

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Dialektische Theologie als Theologie der Krisen der Moderne. Einleitung in den Band

Georg Pfleiderer und Harald Matern

1. Theologie der Krisen

Die dialektische Theologie des Basler Theologen Karl Barth hat sich in Auseinandersetzung mit den grossen gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und religiös-theologischen Krisen des 20. Jahrhunderts entwickelt. Ihr – ihrerseits dialektisches – Spezifikum kann man darin sehen, dass es gerade diese Intensität der Auseinandersetzung mit ihrer so krisenreichen Zeit ist, die Barths Theologie zu einer immer stärker das eigentümlich Theologische betonenden Denkform geführt hat. Zudem hat Barth – wiederum in eigentümlich dialektischem Verhältnis zu jener Signatur der Zeitläufte – auch inhaltlich mehr und mehr die Überlegenheit Gottes betont, die gerade darin bestehe, dass sich Gott der Menschheit und ihrer Geschichte mit ihren krisenhaft-katastrophalen Verwicklungen und Verstrickungen heilsam zuwende. «Hominum confusione et Dei providentia Helvetia regitur.» Der alte Schweizer Wahlspruch gehörte für den krisengewohnten, Krisen nicht scheuenden, auch von persönlichen Krisen nicht verschonten Basler Theologen zeitlebens zu seinen Lieblingszitaten.1

Die sensible Wahrnehmung der Krisenhaftigkeit der Zeit, in der nach Barths Dafürhalten die Krisenhaftigkeit des Menschseins überhaupt aufscheint, und die dialektische Strukturierung der Theologie gehören bei Barth also aufs Engste zusammen.2 Mit dieser spezifischen Signatur ist ferner verbunden, dass diese eine dialogische, also dem Genre nach eine rhetorische |8| Dialektik ist. Barths Theologie entwickelt sich stets in Auseinandersetzung mit bestimmten anderen – theologischen und oft auch aussertheologischen – Positionen. So wie das Wort Gottes von ihm als den Menschen direkt ansprechende und in Anspruch nehmende Grösse verstanden und gefasst wird,3 so ist auch seine Wort-Gottes-Theologie – unerachtet ihres gerade in der späteren Phase der «Kirchlichen Dogmatik» mehr und mehr monologisch-monolithischen Erscheinungsbildes – eine in hohem Masse dialogische, sich auseinandersetzende, sich wehrende, aber vor allem auch um Verständnis und Teilnahme werbende und nicht zuletzt eine sich in solchen Auseinandersetzungen, auch in der kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst, weiterentwickelnde Theologie.

Die Brunnenstube dieser solchermassen mehrfach und mehrdimensional dialektischen Theologie liegt zweifellos im Zeitraum des Ersten Weltkriegs und seinem unmittelbaren zeitlichen Umfeld. In der Auseinandersetzung mit dieser ersten grossen allgemeinen, ja totalen4 Gesellschaftskrise des 20. Jahrhunderts formt und formiert sich die Theologie Karl Barths als dialektische Theologie. Aber, und darin scheint das dialogische Element jener Dialektik auf: Es sind bekanntlich nicht so sehr die Kriegsereignisse als solche, die Barths Denken im Herbst 1914 in eine neue theozentrisch orientierte Bewegung setzen, sondern sehr viel mehr die Reaktionen seiner ehemaligen deutschen theologischen Lehrer auf den Krieg. Beides zusammen – die Dramatik des Krieges und die Reaktionen darauf – zeigen für ihn die |9| Grenzen jeder Erlebnistheologie auf, und es beginnt ein Suchen nach einer neuen theologischen Sprache. Diese Suche wird zunehmend radikaler, denn es zeigt sich für Barth bald, dass auch die zweite, für ihn zu diesem Zeitpunkt noch massgebliche Bezugsgruppe, nämlich die Religiösen Sozialisten, aus seiner Sicht keine adäquaten Antworten auf die – theologischen – Herausforderungen der Gegenwart zu geben vermögen.

Alle diese Zusammenhänge sind inzwischen recht gut erforscht. Dem jungen Barth und der Entwicklung seiner dialektischen Krisentheologie hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine intensive, vor allem, aber keineswegs nur deutschsprachige Forschung zugewandt; und es sind auch mancherlei mehr oder weniger heftige Positions- und Schulkämpfe um die Deutung und Deutungshoheit dieser für das Spätere so wegweisenden Entwicklungsphase des Barthschen Denkens ausgetragen worden. Die entsprechenden Debatten fanden freilich auf der Basis einer in gewisser Hinsicht noch eingeschränkten Quellenlage statt: Das entscheidende tool, nämlich eine historisch-kritische Edition aller – publizierten und vor allem auch unpublizierten – Texte Barths aus jener Ära hatte bisher noch gefehlt. Barths «Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921» waren noch nicht veröffentlicht. Eben dies hat sich jetzt geändert; und darum ist eine neue Sichtung dieser Zusammenhänge nun möglich, aber auch erforderlich.

Aufgrund der kritischen Edition ist jetzt erkennbar, in welchem Masse Barths Texte in konkreten Auseinandersetzungen mit einzelnen Personen und in damals geführten Debatten entstanden sind, viele davon mit einigem Lokalkolorit, aber mit nicht minder allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung. Eine auf solche Zusammenhänge achtende Sichtung sollte in einer ersten und gewiss noch alles andere als abschliessenden Weise im Rahmen einer Basler Vernissage-Tagung vorgenommen werden, die unmittelbar nach Erscheinen jenes Bandes im November 2012 stattfand.

Ähnliches gilt, wenngleich mit grossen Abstrichen, auch für Barths Hauptwerk aus jener Epoche, nämlich für seinen «Römerbrief» in der zweiten Auflage von 1922. Zwar war der Text als solcher wahrlich bekannt; aber eine historisch-kritische Edition dieses Textes ist doch erst jetzt, nämlich seit 2010, verfügbar.5 Dass die darin enthaltenen Verweise auf zeitgeschichtliche Kontroversen und nähere und fernere intellektuelle und kulturelle Zusammenhänge und Bezüge, vor deren Hintergrund und in die hinein auch und gerade dieses vermeintlich so monolithische, ja erratische Werk des Römerbriefkommentars geschrieben und darum auch zu lesen ist, die Forschung |10| weiterbringen werden, steht zu erwarten. Insbesondere können Fernerstehende, die sich nicht die Mühe der eigenen Erkundung jener zeitgeschichtlichen Diskurszusammenhänge machen können oder wollen, auf neue Weise an gerade diesen Text herangeführt werden.6

Der Erste Weltkrieg war auch für ein nicht kriegführendes Land wie die Schweiz eine enorme Belastungsprobe für die Leistungsfähigkeit von Institutionen, sozialen Verbänden, Individuen und Familien, aber auch und darin für die Kohärenz der Gesellschaft insgesamt. Einerseits wurden die grossen sozialen Spannungen und Ungleichheiten, welche die teilweise rapide und radikale Industrialisierung der Schweiz in der Vorkriegszeit mit sich gebracht hatte, während der Kriegsjahre verschärft und ausgeweitet, andererseits wurde ihre politische Bearbeitung weitgehend sistiert. Darum kamen sie im sogenannten General- oder Landesstreik von 1918 zum offenen Ausbruch. Karl Barth hat diese Abläufe als SPS-Mitglied intensiv mitverfolgt und in zahlreichen Auftritten im Rahmen seiner Möglichkeiten mit zu beeinflussen versucht. Die betreffenden Redemanuskripte und -skizzen, die sogenannten «Sozialistischen Reden», deren Publikation lang ersehnt war, liegen jetzt endlich vor.

Ob die wissenschaftliche Rezeption dieser wie der übrigen nun edierten oder neu edierten Texte Barths aus diesen Jahren das Bild und Verständnis seiner Theologie und theologischen Entwicklung in diesem Zeitraum entscheidend verändern wird, bleibt abzuwarten. In jedem Fall wird man die verschiedenen Stränge von Barths Theologie, ihre zeitkritischen und sozialethischen Dimensionen auf der einen Seite und ihre immer deutlicher die Form einer dialektischen, bibelbezogenen Wort-Gottes-Theologie annehmende Erscheinung auf der anderen Seite, nicht mehr unabhängig voneinander deuten dürfen. In dem Masse, wie solche Zusammenhänge und Verwobenheiten nun plastischer denn je greifbar werden, dürften sich einseitige Lesarten verbieten, die Barth in diesen Jahren entweder insgesamt als Sozialisten verstehen wollen oder aber seine theologische Entwicklung rein ideengeschichtlich, aus intellektuellen Gesprächen und Selbstgesprächen mit philosophischen und theologischen Positionen der näheren oder ferneren Theologie- und Philosophiegeschichte zu deuten suchen oder aber in einem einsamen, unmittelbaren und vermeintlich von allen zeitgenössischen Brillen weitgehend freien Blick in die Bibel begründet sehen.

Zugleich wird es erforderlich werden, bisher probate Beschreibungen solcher zeitgenössischer Tinkturen der Barthschen Texte wie etwa die Etikettierung |11| des zweiten «Römerbriefs» als expressionistisches Dokument genauer zu explizieren. Expressionismus ist eben, wie im vorliegenden Band Folkart Wittekind eindrucksvoll aufzeigt, nicht einfach eine kunsthistorische Kategorie, die in der ordnenden Rückschau einen bestimmten Phänotypus damaliger künstlerischer und literarischer Produktionen markiert. Expressionismus ist vielmehr als Kürzel für zeitgenössische Debatten zu begreifen, die sehr genau auf die Aufgabe der Kunst und Literatur (und unter Umständen auch der Wissenschaft!) in der Umbruchsituation der Moderne reflektieren. Vor diesem Hintergrund sind Barths Texte nicht lediglich als theologische Ausdrucksversion expressionistischer Kunst, sondern zugleich und vielmehr als reflektierte und theologisch reflektierende Beiträge zu jener zeitgenössischen kunsttheoretischen Debatte zu lesen.

Die Aufgabe, die sich also stellt, dürfte darin bestehen, Barths Theologie und theologische Entwicklung noch sehr viel genauer als bisher in der Regel üblich und möglich vor dem Hintergrund jener Diskurse zu interpretieren, in denen die Krisenhaftigkeit der Moderne in diesen Jahren von aufmerksamen Zeitgenossen selbst wahrgenommen und zu verarbeiten versucht wurde. In dem Masse, in dem dies gelingt, wird die Grösse, aber werden auch die unvermeidlichen Grenzen von Barths Krisentheologie jener Jahre noch sehr viel genauer als bisher zum Vorschein gebracht werden können.

Dass die beiden neuen Editionen einen Quantensprung für die Quellenlage bedeuteten, der es erforderlich machte, alle vor 2011 erschienenen Arbeiten der neueren Barthforschung in neuen Auflagen zu überarbeiten, soll aber gleichwohl nicht behauptet werden. Ihre Leistung dürfte vor allem darin bestehen, dass sie den Spezialistinnen und Spezialisten das Auge fürs Detail schärfen, ihnen aber auch die Grenzen allzu fachwissenschaftlicher Spezialisierung und die Notwendigkeit verstärkter interdisziplinärer Zusammenarbeit aufzeigen und sie (so) zugleich grössere Zusammenhänge leichter als bisher erkennen lassen. Fernerstehenden sollte es nun schwerer fallen, allzu einfache Deutungsmuster der Barthschen Theologie in den oben angedeuteten Richtungen weiter zu verfolgen, und sie stattdessen ermuntern, die Differenzierungsleistungen neuerer Barthforschung intensiver zur Kenntnis zu nehmen.

Im vorliegenden Band werden in dieser Richtung und Hinsicht – nur, aber immerhin – erste Schritte unternommen. Die darin versammelten Texte gehen grösstenteils auf Vorträge zurück, die an drei Vernissage-Veranstaltungen der Theologischen Fakultät der Universität Basel anlässlich von Neuerscheinungen der Karl-Barth-Werkausgabe zwischen 2011 und 2013 gehalten wurden.

Sechs Beiträge des Bandes, nämlich diejenigen von Hans-Anton Drewes, Regina Wecker, Andreas Pangritz, Georg Pfleiderer, Bruce McCormack und |12| Dirk Smit, haben ihren Ursprung in der gut besuchten, auch medial viel beachteten7 Tagung, die von der Basler Theologischen Fakultät Basel in Zusammenarbeit mit der Karl Barth-Stiftung und dem Karl Barth-Archiv am 9. November 2012 aus Anlass der Edition der «Vorträge und kleineren Arbeiten 1914–1921» im Kollegiengebäude der Universität Basel veranstaltet wurde.

Der Beitrag von Cornelis van der Kooi wurde in der Vortragsform präsentiert beim «Symposium aus Anlass des 125. Geburtstags Karl Barths sowie der Neuedition des «Römerbriefs» (1922) im Rahmen der Gesamtausgabe», das am 6. Mai 2011 ebenfalls in Basel und von den gleichen Institutionen wie jene erstgenannte Tagung veranstaltet wurde. Der bereits erwähnte Text von Folkart Wittekind ersetzt im vorliegenden Band dessen Tagungsvortrag.8

In den «Vorträgen und kleineren Arbeiten 1914–1921» nicht enthalten ist naturgemäss Barths Hauptwerk aus diesen Jahren, sein erster Römerbriefkommentar von 1919. Da jedoch in diesem Band der Bogen von 1914 bis zum Römerbriefjahr 1922 komplett geschlagen werden sollte, hat Harald Matern eigens für diesen Zweck einen Beitrag zu jenem ersten «Römerbrief» verfasst, dem in der Forschung vielleicht immer noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit zugewendet wird.

Formal in gewisser Weise als Anhang, inhaltlich als eine Art Ausblick, haben sich die Herausgeber des vorliegenden Bandes entschlossen, in diesen noch einen weiteren Aufsatz aufzunehmen, nämlich Michael Hüttenhoffs genaue Rekonstruktion der Auseinandersetzung zwischen Barth und führenden Vertretern der Bekennenden Kirche im Zeitraum zwischen November 1933 und Mai 1934. Auch dieser Aufsatz wurde in Vortragsform an |13| einem Basler Vernissage-Symposium vorgetragenen, das aus Anlass des Erscheinens von Barths «Vorträge[n] und kleinere[n] Arbeiten 1930–1933»9 am 15. November 2013 wiederum an der Universität Basel und von denselben Veranstaltern wie jene Tagungen ausgerichtet wurde.10 Zwar wird damit über den im Untertitel des vorliegenden Bandes signalisierten Zeitraum hinausgegriffen; zu Barths «früher dialektischer Theologie» kann sein Denken in den ersten 1930er Jahren, also in der Phase der «Kirchlichen Dogmatik» I/1 bzw. I/2, nicht mehr eigentlich gerechnet werden.

Mit der Aufnahme des Beitrags in den Band verbindet sich vielmehr der doppelte Interpretationsvorschlag, zum einen die oben skizzierte Sichtweise des integrativen Blicks auf die zeitdiagnostischen und genuin theologischen Elemente der Barthschen Theologie nicht nur an seinen frühen Texten zu praktizieren. Auch – und vielleicht gerade – die Texte der «Kirchlichen Dogmatik» sollten stärker vor dem Hintergrund der zeitgenössischen «Vorträge und kleineren Arbeiten» Barths und der dort aufscheinenden intensiven dialektisch-dialogischen Bezüge und Verstrickungen gelesen werden, als dies in der Regel bisher der Fall ist.

Der inhaltliche Teil des damit verbundenen Deutungsvorschlags ist, dass Barths Theologie möglichst in ihrer gesamten Ausdehnung, nicht nur in ihren Anfängen und in den wilden zwanziger Jahren, als «Theologie der Krise» gelesen werden möge, die spätestens mit KD I/1 in eine ruhigere, positiv-dogmatische Form, deren Architektur nicht selten mit der einer Kathedrale verglichen worden ist, überführt wurde. Auch in der allgemeinen Historiographik beginnt es sich einzubürgern, das 20. Jahrhundert insgesamt als «Zeitalter der Extreme»11 wahrzunehmen, als die Phase einer Moderne, die bis mindestens 1989, aber vielleicht bis in unsere Gegenwart hinein, aus spannungsvollen, antagonistischen und darum stets neue Krisen erzeugenden Extremen nicht herauskommt. Möglicherweise fehlt auch uns Heutigen noch der Abstand, um zu sehen, in welchem Masse Karl Barths dialektische Krisentheologie der heilsamen Zuwendung Gottes zu gerade dieser Welt das Kind ihrer – und unserer(?!) – Zeit (gewesen) ist. Wie dem auch sei: Jedenfalls sind die für die nächsten Jahre und Jahrzehnte geplanten und zu erwartenden Bände der «Vorträge und kleineren Arbeiten» Karl Barths, |14| die über das Jahr 1933 hinausführen, auch und vor allem aus diesen Gründen mit Spannung zu erwarten.

2. Krisentheologie in Einzelanalysen. Zu den Beiträgen des Bandes

Hans-Anton Drewes, langjähriger Leiter des Karl Barth-Archivs in Basel und Editor des neuen Bandes der Gesamtausgabe, führt mit seinem Beitrag in Probleme und Themenstellungen der «Vorträge und kleineren Arbeiten 1914–1921» ein. Mit Behutsamkeit und Unterscheidungsvermögen behandelt er die Frage, ob die Theologie Barths in seiner Safenwiler Zeit «die Denkform eines dialektisch-theologischen Sozialismus» darstelle. Leitend für deren Beantwortung ist die Unterscheidung zwischen theologischen Denkfiguren, die eher einer «negativen Theologie» entsprächen, und der politischen Praxis Barths, in der sich die Entwicklung seines Verhältnisses zum Sozialismus in drei zu unterscheidenden Phasen abbilde. Für die Einschätzung der politischen Praxis sei es unerlässlich, die «Interaktionen und Interferenzen» unterschiedlicher sozialer Interessenträger zu beachten. Vor diesem Hintergrund müsse auch die theologische Verwendung des Sozialismusbegriffs verstanden werden, wie Drewes in der Nachzeichnung des Denkweges Barths anhand (teilweise) neu publizierter Texte zeigt. Als Leitmotive liessen sich dabei zum einen die «Unterscheidung der Zeiten», die Barths Geschichtstheologie wie zugleich seine Gegenwartsdeutung präge, zum anderen die Zentralstellung des Lebensbegriffs identifizieren.

In ihrem Beitrag «Der Anfang des 20. Jahrhunderts und die Schweiz: Versuch einer historischen Situierung der Schriften von Karl Barth» greift die Basler Historikerin Regina Wecker exemplarisch drei historische Ereignisse der Schweizer Geschichte in jenem Zeitraum heraus, um an ihnen Barths Interferenzen mit der Zeitgeschichte zu untersuchen: die Landesausstellung von 1914, das Fabrikgesetz von 1914/1920 und den Landesstreik 1918. Das erste dieser drei Ereignisse sei von Barth freilich weitgehend ignoriert worden. Gleichwohl liessen sich an ihm gesellschaftliche und politische Spannungen und Problemlinien erkennen, die sich in der Folgezeit verschärft und verstärkt hätten. Dazu zählen die Animositäten zwischen der Deutsch- und der Westschweiz, aber auch die sozialen Konflikte.

Diese seien im Zusammenhang der Revision des Fabrikgesetzes 1914 zu einem ersten manifesten Ausbruch gekommen, deren Umsetzung sich wegen des Kriegsausbruches dann jedoch bis 1920 verzögerte. Barth habe sich engagiert und vergleichsweise differenziert für Arbeitszeitverkürzung, Frauenschutz und bessere Löhne für die (männlichen) Fabrikarbeiter ausgesprochen. Seine Forderungen hätten «die bürgerlichen Vorstellungen, die das Haus als Wirkungsstätte der Frau sahen und die der Gewerkschaften» vereint. Der auf |15| die Brechung des «Burgfriedens» zwischen Bürgerlichen und Sozialdemokraten folgende landesweite Streik im November 1918 habe einen kritischen Barth auf der Seite der Gewerkschaften gesehen. Nach Weckers Darstellung sei die politische Haltung Barths wesentlich durch die Verschärfung der Spannungen zwischen bürgerlichen Kräften und Sozialdemokratie beeinflusst worden. Einmal mehr macht dieser Text damit deutlich, dass die Untersuchung des Verhältnisses von Theologie und Politik bei Karl Barth im und kurz nach dem Ersten Weltkrieg nicht ohne eine genaue Kenntnis der spezifischen Schweizer Verhältnisse vorgenommen werden kann.

Barths Verhältnis zu Sozialismus und Sozialdemokratie wendet sich auch der Beitrag des Bonner Systematischen Theologen Andreas Pangritz zu. In seinem «Neue[n] Bericht über Karl Barths ‹Sozialistische Reden›» sucht er die für die Beurteilung der Entwicklung der Barthschen Theologie, aber auch für die Einschätzung des Verhältnisses von theologischer und politischer Positionierung Barths so wichtige wie umstrittene Frage einer genaueren Beantwortung zuzuführen, welche konkrete historische Bedeutung und welche theologischen Implikationen Barths sozialistisches Engagement in der Zeit seines Safenwiler Pfarramts hatte. Pangritz, der selbst bei dem mit der Debatte um «Theologie und Sozialismus» ursächlich verbundenen Friedrich Wilhelm Marquardt studiert hat, kommt auf der Grundlage der nun verbesserten Quellensituation zu einem differenzierten Bild.

Barths Engagement für den Sozialismus sei in erster Linie als antibürgerliche Selbstpositionierung gegenüber dem institutionellen Christentum wie der institutionellen Sozialdemokratie zu verstehen. Dabei orientiert sich Pangritz an Marquardts Periodisierungsvorschlag der «sozialistischen» Phase Barths und wendet sich insbesondere der Reaktion auf den Beginn des Ersten Weltkriegs wie auf die Oktoberrevolution zu. Die Leitbegriffe «Persönlichkeit» und «Glaube» würden ab ca. 1915 vom Gegensatzpaar «Gott» und «Welt» abgelöst. Diese Verschiebung sei charakteristisch für Barths Umgang mit dem Sozialismus, darum könne auf ihrer Basis die Entwicklung seines theologischen Denkens insgesamt nachgezeichnet werden.

Die Frage, ob diese Wendung hin zu Gott als dem «ganz Anderen» als eine Absage an den Sozialismus zu verstehen sei, verneint Pangritz. Vielmehr sei hier Gottes Alterität als treibendes Motiv sowohl der Geschichtstheologie Barths wie auch seiner Forderung nach Radikalisierung der Sozialdemokratie vom biblischen Zeugnis her zu verstehen. Noch 1919 sei Barth der radikal-sozialistischen Position von Kurt Eisner zugeneigt geblieben. Den theologischen Hintergrund dieser politischen Positionierung sieht Pangritz insbesondere im nun edierten Aarburger Vortrag «Christliches Leben» vom Juni 1919 erstmals entfaltet, den er als Vorform des berühmten Tambacher Vortrags wertet. Auch hier sei keinesfalls eine «Abkehr vom Sozialismus» auszumachen – vielmehr müsse bezüglich Barths Safenwiler Zeit insgesamt |16| für das Verhältnis von politischer Praxis und theologischem Denken gelten, dass «das Konzept [d]e[s] ‹ganz andere[n]› Gott[es] […] aus dieser Hoffnung auf eine andere Welt» überhaupt erst «entsteht». Damit bezieht Pangritz eine eindeutige Stellung zur Forschungsfrage nach Religion, Theologie und Politik.

Eine etwas andere Perspektive sucht der Beitrag des Basler Systematischen Theologen Georg Pfleiderer für die neu veröffentlichten Texte Barths zu entwickeln. In seiner Deutung der «Entwicklung von Karl Barths theologischem Denken im Zeitraum des Ersten Weltkriegs» orientiert er sich u. a. an der spezifischen Form theologischer Religionskritik, die Barth in dieser Zeit entwickelt. Zentral ist dabei Pfleiderers These, dass Barths Religionskritik vom Anliegen getragen sei, das Verhältnis von religiöser Erfahrung und theologischer Reflexion in ein Verhältnis dialektischer Reflexionssteigerung zu überführen. Kennzeichnend für den Entwicklungsprozess der Denkbewegung Barths und damit auch für seine Texte jener Phase sei deren dialogische Dialektik.

Über die Reflexion der jeweiligen Entstehungskontexte der Texte Barths führt Pfleiderer seine Rekonstruktion weiter hin zu einer Sichtung der ethischen Implikationen, die insbesondere Barths Rekurse auf Sozialismus und Religion enthalten. Dabei werde deutlich, dass die kritische Haltung gegenüber institutionellen Kollektivakteuren wie Kirche und Sozialdemokratie, die Barth an den Tag lege, keinesfalls zu einer ethischen Abstinenz führe. Vielmehr sei gerade die theozentrische Wendung der Theologie Barths (für die der Begriff des Reiches Gottes von nun an stehe) als Ausdruck gesteigerter Einschärfung einer spezifischen theologisch-religiös-ethischen Haltung seiner intentionalen Rezipienten anzusehen. «Das neue Ethos bekundet sich seinerseits als ein Ethos kritischer theologischer Reflexionsdistanz; die theologische Theorie führt in die ethisch-religiöse Praxis – et vice versa. Diese Doppelbewegung wird seither zur eigentümlichen Signatur der theozentrischen Theologie Karl Barths.» Vor diesem Hintergrund werde die Funktion des Sozialismus für Barths Theologie und Lebenspraxis als Vehikel einer bestimmten kritisch-zeitdiagnostischen Reflexionskultur erkennbar, nicht aber vornehmlich als institutionelle oder politische Option, deren Verabschiedung als Bruch verstanden werden müsste.

Wiederum von einer anderen Seite nimmt der junge Basler Systematische Theologe Harald Matern die Frage des Gegenwartsbezugs der Barthschen Theologie in den Blick. Dabei soll eine Neulektüre der Erstfassung des «Römerbriefs» von 1919 das Verhältnis von Geschichte, Eschatologie und Gegenwart herausarbeiten. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage nach dem «Realismus» der Barthschen Theologie dieser Zeit neu aufgenommen und insbesondere im Blick auf ihre ethischen Implikationen untersucht. |17| Die Frage danach, worin der spezifische Beitrag einer theologischen Eschatologie zum zeitgenössischen geschichtsphilosophischen Denken besteht, wird durch den vergleichenden Blick auf zeitgenössische Entwürfe mit geschichtsphilosophischer Intention oder Valenz präziser zu fassen und insbesondere auf die Verhältnisbestimmung von Apokalyptik und Eschatologie hin zu klären versucht. Die Eschatologie in der Erstfassung des «Römerbriefs» bereite Barths spätere ethische Gedankengänge vor, insofern das Ineinander von Realismus und Kritizismus sich als kritisch-selbstkritische Reflexionsperspektive auf das Verhältnis von Partikularität und Universalität des christlichen Geltungsanspruchs verstehen lasse. In dieser Hinsicht stelle gerade Barths erster «Römerbrief» ein wichtiges Dokument auch im Hinblick auf gegenwärtige eschatologische Neuaufbrüche dar.

Der Princetoner Systematiker Bruce McCormack, wohl der profilierteste und im deutschsprachigen Raum am intensivsten rezipierte amerikanische Barthforscher, geht in seinem Beitrag «Longing for a New World: On Socialism, Eschatology and Apocalyptic in Barth’s Early Dialectical Theology» einer thematisch ähnlich gearteten Fragestellung nach. Dabei vertritt er die These, dass Barths Theologie um 1915 nicht nur apokalyptisch war, sondern dass dieser Zug sie im Verlauf der Jahre in immer stärkerem Mass präge. Dabei sei eine Ablösung von Blumhardts Eschatologie zugunsten einer paulinischen Apokalyptik zu verzeichnen. Dieser Prozess sei am Vortrag «Kriegszeit und Gottesreich» von 1915, dem Tambacher Vortrag von 1919 und der Zweitfassung des Römerbriefkommentars von 1921 ausweisbar.

Während Barths «neue Theologie» um 1915 durch einen kritischen Bezug auf den institutionellen Sozialismus geprägt sei und systematisch mit einer spezifischen Form des «Realismus», einer spezifisch modernen, objektiven Theozentrik sowie theologischer Religionskritik einhergehe, sei es insbesondere die kaum ausgebaute Christologie, die den Unterschied der Blumhardt’schen Eschatologie zur paulinischen Apokalyptik der späteren Phase markiere. Diese Ablösung gehe im Tambacher Vortrag auch mit dem Wegfall der organischen Metaphorik einher, die noch die Erstfassung des «Römerbriefs» prägte. An deren Stelle trete die Auferstehung als Gravitationszentrum der Theologie Barths, die es ihm auch erlaube, eine neue Fassung des Begriffs der «Unmittelbarkeit» zu entwickeln. Die Zweitfassung des «Römerbriefs» sei schliesslich von einer voll entwickelten paulinischen Apokalyptik geprägt – wobei McCormack auf den ursprünglichen, offenbarungstheologischen Wortsinn rekurriert und die Auferstehung Christi in den Mittelpunkt einer in erster Linie kosmologischen Apokalyptik rückt. Gerade hierin habe Barths Auslegung auch der gegenwärtigen englischsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft einige, durchaus schulbildende Impulse gegeben, obgleich sie, hinter den soteriologisch-apokalyptischen Ausführungen der «Kirchlichen Dogmatik» noch zurückstehe. |18|

Welchen zeitdiagnostischen und zeittherapeutischen Sinn solche an Katastrophensemantiken orientierten Barth- und Bibellektüren vor dem Hintergrund aktueller sozialer, kultureller und kirchlich-religiöser Auseinandersetzungen in den heutigen USA haben könnten, ist insbesondere von aussen schwer zu beurteilen.

Wenn es für die USA zumindest sehr wahrscheinlich ist, solche Zusammenhänge anzunehmen, muss bezüglich vieler anderer Länder diesbezüglich nicht spekuliert werden. Gut begründet dürfte die Vermutung sein, dass die Tatsache, dass Barths Theologie sich in intensiver Auseinandersetzung mit weitreichenden und tiefgehenden Modernisierungskrisen entwickelt hat, für Theologinnen und Theologen in vielen Ländern und Weltgegenden, die – anders als West- und Mitteleuropa – von massiven Schüben solcher Krisen auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis in die unmittelbare Gegenwart hinein massiv geschüttelt wurden, einen wichtigen Grund oder Hintergrund für ihr Interesse an gerade dieser Theologie bildet.

In diesem Sinne exemplarisch für eine solche kontextuelle Lektüre von Karl Barths früher dialektischer Krisentheologie steht in diesem Band der Beitrag des südafrikanischen Theologen Dirk Smit. Sein Beitrag wendet sich am Beispiel seines eigenen Landes und dessen konfliktreicher jüngerer Geschichte direkt den Lektüremöglichkeiten der «Krisentheologie Barths in Kontexten radikaler Transformation» zu. Dabei weist er ausdrücklich auf die verschiedenartigen Schwierigkeiten hin, der die Rede von einer Barthrezeption ausgesetzt ist.

Smit unterscheidet vier Krisen, welche die südafrikanische Gesellschaft im 20. Jahrhundert durchlebt habe, und weist auf die sehr unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Weisen hin, wie in jeder dieser Perioden auf Barth zugegriffen wurde: im Widerstand gegen die Etablierung der Apartheid, im Kampf gegen die Apartheid, im Übergang zum demokratischen Rechtsstaat sowie in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise. Diese Differenzierung ist daher unerlässlich, weil erst die Aufmerksamkeit auf den jeweiligen engeren Rezeptionskontext es erlaube, den Modus der Rezeption in einer funktionalen Perspektive zu betrachten. Zugleich ermögliche der Durchgang durch die bisherigen Barthrezeptionen, die Frage nach der werkgeschichtlichen Kontinuität in Barths Denken neu aufzurollen – und, mit Blick auf die Gegenwart, den Zugriff auf die neu veröffentlichten Texte aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg in den Modus kritischer Selbstreflexion zu überführen.

Obwohl die Niederlande mit Südafrika geschichtlich eng verbunden sind, könnten die beiden Länder hinsichtlich ihres gegenwärtigen gesellschaftlichen Modernisierungs-, insbesondere auch hinsichtlich ihres Säkularisierungsgrades (um den Begriff für einmal ganz cum grano salis zu gebrauchen) gewiss |19| kaum unterschiedlicher sein. Vor diesem Hintergrund leuchtet es unmittelbar ein, dass der niederländische Systematische Theologe Cornelis van der Kooi, Mitherausgeber der neuen Edition von Barths zweitem «Römerbrief», dieses «Jahrhundertbuch» vor allem als theologische Antwort auf eine tiefgehende und gesamtgesellschaftliche Säkularisierungserfahrung deutet.

Die in den Niederlanden seit den 1960er Jahren noch einmal dramatisch fortgeschrittenen Säkularisierungs- bzw. Entkirchlichungsprozesse betrachtet er darum auch als Kontrastfolie für die aus seiner Sicht zumindest in Teilen erstaunlich positive Rezeption der Neuedition der Zweitfassung des Römerbriefkommentars in der weltlichen Presse seines Landes. Auf der Basis solcher Eindrücke geht er der Frage nach, warum insbesondere dieses Buch Barths eine so vergleichsweise breite aussertheologische Rezeption erfahren habe. Neben manchen Gemeinsamkeiten, welche die gegenwärtigen mit den historischen Rezeptionsbedingungen verbänden, legt van der Kooi Nachdruck auf Barths Beitrag zur Schärfung der hermeneutischen Fragestellung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts sowie seine Bedeutung für die Formulierung einer alteritätstheoretisch orientierten Theologie.

Im Unterschied zu van der Kooi verfolgt der in Essen lehrende Systematische Theologe Folkart Wittekind, wenn das plakative Labelling erlaubt ist, nicht eine säkularisierungs-, sondern eine individualisierungstheoretische Interpretation der modernen Theologie, insbesondere derjenigen von Karl Barth. Seine zahlreichen eindringlichen früheren Analysen der Theologie Karl Barths führt er im vorliegenden Beitrag durch eine Studie weiter, die, wie bereits erwähnt, Barths zweiten «Römerbrief» in die kunsttheoretischen Debatten seiner Zeit, näherhin in die Debatten um religiöse Kunst, einordnet. Dies ist bisher, so weit wir sehen, noch nirgends unternommen worden.

Als Beleg für einen expliziten Brückenschlag zwischen den religionsphilosophischen und den kultur- und kunsttheoretischen Diskursen der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs zieht Wittekind zunächst Paul Tillichs Überlegungen zu den Möglichkeiten einer Kulturtheologie heran, um Barths Text daraufhin vor dem Hintergrund der kunstphilosophischen Ausführungen Georg Simmels nach seinen religionsphilosophischen Implikationen zu befragen. Während für Tillich die Expressionismusdebatte von unmittelbarer Bedeutung für die Entwicklung seiner religionsphilosophischen Formel des «Gott über Gott» geworden sei, sei für Georg Simmel die Kunstphilosophie einer derjenigen Rahmen, innerhalb derer er seine Theorie religiöser Individualität illustrieren und präzisieren konnte.

Massgeblich ist für Wittekind dabei die Funktion der Inhalte der Kunst, die ihrerseits als Interpretament der Geltung (religiöser) Gewissheit zu stehen kämen. Barths Religionsbegriff stelle sich vor diesem Hintergrund als Steigerung der Reflexionshöhe des religionsphilosophischen Diskurses dar, |20| der in der Betonung der Alterität des Gegenstandes religiöser Sprache die reflexive Funktion des Objektbezugs für den Ausweis der Geltung der Struktur des religiösen Bewusstseins als genuin theologischen Beitrag zum Religionsdiskurs und zugleich als dessen Modernisierungsprogramm in Stellung bringe.

Damit leistet Wittekind einen Beitrag zu einer kulturtheoretischen Barthdeutung, der vom Objektbezug religiöser Sprache abstrahiert und diese als Ausdruck des reflexiven Umgangs mit ihren Produktionsbedingungen interpretiert. Barths Theologie wird damit ansichtig als in hohem Masse reflexiver Ausbau neukantianischer Theorieelemente, die in ihrer kritischen Wendung des Religionsbegriffs gerade auf dessen Überbietung abziele. Aufzuklären, inwieweit diese ebenso anspruchsvolle wie luzide Interpretation dem «biblischen Realismus», der – unerachtet ihrer kunstvollen dialektischen Reflexionslogik – die Phänomenalität des «Römerbriefs» wie auch all seiner späteren Texte bestimmt, gerecht wird, muss weiterer Forschung vorbehalten bleiben.

Abgerundet, oder besser: über den Tellerrand des Untersuchungszeitraums hinaus geöffnet wird der Band durch den Beitrag des Saarbrücker Systematischen Theologen Michael Hüttenhoff. Seine Ausführungen über die «Kirchliche Opposition im Streit» beschäftigen sich mit Barths Verhältnis zur Bekennenden Kirche und ihren führenden Vertretern. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Vorworte, die Barth für die «Theologische Existenz heute!» 1933 und 1934 schrieb. Anhand der Äusserungen Barths zur Lutherfeier 1933 analysiert Hüttenhoff die umstrittene Stellung Barths innerhalb der kirchlichen Opposition und seine Reaktionen darauf. Dabei stehen Barths Kritik an der Theologie (die Hüttenhoff auf der Linie seiner Polemik gegen die natürliche Theologie bzw. den Neuprotestantismus interpretiert) sowie der s. E. unrechtmässigen Übernahme der Kirchenleitung durch die Deutschen Christen im Vordergrund, die ihn zugleich in eine kritische Position gegenüber der Jungreformatorischen Bewegung, aber auch innerhalb des Pfarrernotbunds brachte. Hüttenhoffs konzise Mikroanalyse zeigt Barths Dialektische Theologie in der dramatischen Phase der gesamtgesellschaftlichen und humanitären Krise, die der nationalsozialistische Staat zu diesem Zeitpunkt noch nur Deutschland brachte. Sie zeigt die «Dialektische Theologie in Scheidung und Bewährung» (Walter Fürst). Ob die Scheidungen, die Barth in dieser Phase oft auch gegenüber engeren Weggefährten aus grundsätzlichen theologischen Erwägungen meinte vornehmen zu müssen, der politischen und ethischen, aber auch theologischen Bewährung seiner Theologie in allen Fällen wirklich dienlich waren, – dies zu beurteilen muss, wie vieles andere auch, ebenfalls der weiteren Forschung vorbehalten bleiben. |21|

3. Dank

Die Herausgeber danken zunächst der Autorin und den Autoren dafür, dass sie ihnen ihre Beiträge für diesen Band überlassen und dabei teilweise einige Geduld bewahrt haben.

Dass die betreffenden Anlässe, aus denen der Grossteil der Beiträge hervorgeht, möglich wurden, ist vor allem der Förderung und Unterstützung der Karl Barth-Stiftung und namentlich ihrem Präsidenten, Dr. iur. Dr. theol. h. c. Bernhard Christ, zu danken. Ihm bzw. ihr danken wir auch für einen namhaften Beitrag zur Deckung der Druckkosten des vorliegenden Bandes. Ebenfalls danken wir dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) für einen Beitrag zur Förderung der Tagung vom November 2012.

Die redaktionelle Bearbeitung dieses Buchs ist grossenteils von Tanja Manz, Julia Vitelli sowie Paul Schalck geleistet worden, denen für ihre vielfältigen Mühen und beständige Unterstützungsbereitschaft besonders gedankt sei. Schliesslich, aber nicht zuletzt danken wir dem Theologischen Verlag Zürich in der Person von Lisa Briner sowie von Stephan Landis, deren geduldige Begleitung und freundliche Kritik dem Text viel Gutes getan und diesem Buch nun endlich zu seiner Veröffentlichung verholfen haben. Sie bewahren auch in dieser Hinsicht aufs Beste das Erbe ihrer Vorgängerin, der so früh verstorbenen Marianne Stauffacher, der wir auch an dieser Stelle noch einmal in grosser Dankbarkeit und Anerkennung gedenken möchten.

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I.

Theologie im Horizont der Krise des Ersten Weltkriegs

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«Abwechselnd über der Zeitung und dem Neuen Testament brütend». Themen und Probleme in Barths «Vorträgen und kleineren Arbeiten 1914–1921»

Hans-Anton Drewes

Die Dramaturgie des Symposiums, in dem der nachstehende Beitrag seinen Sitz im Leben hatte, hatte für das erste Referat eine Einführung in Barths «Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921» vorgesehen, denen die Konferenz insgesamt gewidmet war.12

Wenn wir uns zum Vergleich an den Studienbetrieb der Hohen Schulen des Mittelalters erinnern, die doch ein bleibendes Modell der universitas magistrorum et scholarium darstellen, wäre meine Aufgabe also die des baccalaureus, der zu einer quaestio disputanda Fragen und Antworten, traditionelle und womöglich auch neue, zusammenzutragen und zu ordnen und das Für und Wider dieser oder jener Problemlösung zu besprechen hatte, um so die determinatio magistralis vorzubereiten. |26|

I.

Gewiss wird es heute mehrere solche determinationes magistrales geben. In jedem Fall hat die vorbereitende Sammlung von Perspektiven und Aspekten jetzt mit der Formulierung der Disputationsfrage zu beginnen, die in unserem Fall also wohl hiesse: «Utrum doctrina Barbae in tempore Safenviliensi sit doctrina dialectico-theologici socialismi.»13 Und die erste Angabe, der erste Schritt zur Beantwortung dieser Frage müsste traditionsgemäss lauten: «Videtur quod non», es scheint so, dass Barths Denk- und Lehrform in der Safenwiler Dekade nicht die Denkform eines dialektisch-theologischen Sozialismus gewesen sei.

Als einen ersten Beleg für diesen Eindruck möchte ich, um gleich mitten in die Sache zu springen, den kurzen Text anführen, den Barth mit «Sozialismus und Kirche» überschrieben hat. Barth sagt hier einerseits, er sei «mehr Pfarrer als Sozialist», andererseits, er sei «auch Sozialist wenigstens». Die Stichworte, die Barth sich wohl für eine Aussprache im Safenwiler Arbeiterverein notiert hat, erläutern dieses «mehr» und dieses «auch wenigstens» so: Das «Unausgesprochene» im Sozialismus ist gerade das Wesen des Sozialismus, und deshalb ist hinter und über dem Parteiprogramm von der Bibel zu reden – von der Bibel, die aber in der kirchlichen Tradition entleert worden ist; deshalb ist im gleichen Vorgang ebenso umgekehrt von der Bibel, von der Theologie her auf den Sozialismus Bezug zu nehmen, um die einseitig geistige, die einseitig moralische, die insgesamt zu wenig radikale Auffassung und Wahrnehmung der Bibel zu korrigieren.

Friedrich-Wilhelm Marquardt, dessen ich auch an dieser Stelle mit aufrichtigem Dank gedenken möchte, hat diese Notizen in den Zusammenhang der thematisch ähnlichen Vorträge über «Religion und Sozialismus», «Krieg, Sozialismus und Christentum» und über «Christus und die Sozialdemokraten» gestellt und entsprechend in die Jahre 1915/1916 eingeordnet. Das ist gewiss sehr erwägenswert. Trotzdem stellt sich hier eine Frage: Denn zum einen ist das Schriftbild z. B. der Ausführungen über «Krieg, Sozialismus und Christentum» vom 14. Februar 1915 doch deutlich anders als das der Notizen über «Sozialismus und Kirche».14 Zum andern aber und vor allem: Die Stichworte über «Sozialismus und Kirche» sind auf der Rückseite eines Textentwurfs notiert, dessen Schrift ebenso wenig oder noch weniger |27| der von 1915/1916 gleicht.15 Die Gedankenmotive in diesem Textfragment erinnern an die Predigt, die Barth am 26. Oktober 1919 gehalten hat.16 Das gibt uns einen Orientierungspunkt.

Gemeinsam ist dem Textfragment und der Predigt die Unterscheidung von drei bzw. vier Zeiten: Das Textfragment unterscheidet sie deutlich als erste, zweite und dritte Zeit. Soviel aus den wenigen Zeilen – in Barths an Thomas von Aquins «littera inintelligibilis» erinnernder Schrift – zu entnehmen ist, sind sie im Blick auf die Frage unterschieden, «die verborgen im Herzen der Menschen lebt»; die dritte Zeit, «in der wir daran denken müssen», wird der ersten gegenübergestellt, in der wir daran denken – vielleicht akzentuiert Barth: «noch daran denken» –, und der zweiten, in der wir nicht daran denken – vielleicht: nicht daran denken wollen. Vermutlich hatte Barth zuvor, auf der nicht erhaltenen oberen Blatthälfte, davon gesprochen, dass wir in Beziehung auf die Lebensfrage auch in der ersten und der zweiten Zeit leben. «Die gegenwärtige Zeit» ist, «aufs Ganze gesehen», jedoch «jedenfalls dritte Zeit»: «die Zeit der offenen, der brennenden Frage», in der «viel Sicherheit, viel Befriedigung, viel Gerechtigkeit» dahin ist; aber gerade da «fängt das Leben an».

Wenn es sich hier wirklich um ein Fragment aus dem ersten Anlauf zur Predigt vom 26. Oktober 1919 handelte, dann wäre er wohl kassiert worden, weil Barth die Kennzeichen und das Verhältnis der drei Zeiten noch genauer ausarbeiten wollte. In der Predigt, wie sie dann gehalten wurde, kehren viele Motive aus dem Textfragment wieder: «Die grosse, brennende Frage unserer Zeit, die wie ein Erdbeben durch alle Herzen hindurchgeht», die nun bestimmter gefasst wird als die Frage: «Wo ist Gott in der Menschenwelt?»17; die Menschen, die «sehnsüchtig» geworden sind18, die «erwacht sind und nun wachen müssen»19, über die die «Unruhe» gekommen ist20, die «ganz am Anfang des Lebens stehen».21 Vor allem kehrt die Unterscheidung der Zeiten wieder – nun aber zunächst konzentriert auf den Gegensatz von unserer Zeit22 und der Zeit vor dem Krieg23, der jedoch charakteristisch differenziert wird: zunächst durch die Feststellung, dass in der |28| Vorkriegszeit Gott «überflüssig» wurde, indem die Menschen dieser Zeit und des in ihr sich zusammenfassenden Zeitalters, die «im Grossen Ganzen mit sich selbst und mit dem Leben fertig» waren, «allerdings auf die Frage kommen» mussten, «ob es einen Gott gibt»24. Aus der Zeit eines nicht problematisierten Glaubens geht also die Zeit des Zweifels an Gott hervor.25 «Unsere heutige Zeit» ist aber nicht nur durch einen «Rest» «in uns allen» mitbestimmt, «in dem wir auch noch vor dem Krieg sind»26. Sie ist auch, in einer gegenüber dem Fragment genauer zu unterscheidenden Analyse, als die Zeit gesehen, die von der Frage nach «Gott in der Menschenwelt» «bewegt ist oder doch im Begriff steht, nun an diese Frage heranzukommen»27. Sie steht vor der Entscheidung, das «Rätsel» jener Frage ernst zu nehmen. «Von dieser Entscheidung wird es dann abhängen, ob der Verheissung, die wir heute unzweifelhaft haben, die Erfüllung folgen kann.»28 Es sind also vier Zeiten, die in verschiedener Aktualität, in Potenz und Latenz, die Gegenwart von 1919 bestimmen: die Zeit des Glaubens, die Zeit des Zweifels, die Zeit der Verheissung (die in der offenen Frage gegeben ist) und die Zeit der Erfüllung. Die Zeit der Erfüllung ist noch nicht Gegenwart. Aber sie «wird kommen». «Denn wenn es mit der Frage: Wo ist Gott? wieder ernst werden wird unter uns, dann wird auch die Antwort da sein.»29 Wenn die Antwort aus der Frage selber entspringt, dann ist klar, dass schon in dieser dritten Zeit «Ungläubige» wie «Gläubige», die «drinnen» und die «draussen» – eben in der offenen, brennenden Frage – in einer seltsamen bedeutungsvollen Weise zusammengehören.30

Der genauere Blick auf das Textfragment und auf die Predigt vom 26. Oktober 1919 war nicht nur für den Versuch einer chronologischen Einordnung der Stichworte über «Sozialismus und Kirche» notwendig. Er war |29|3132