Praktische Theologie im reformierten Kontext

herausgegeben von Albrecht Grözinger, Gerrit Immink, Ralph Kunz,Andreas Marti, Christoph Morgenthaler, Félix Moser, Isabelle Noth, David Plüss und Thomas Schlag.

Band 5 – 2013

Die Reihe »Praktische Theologie im reformierten Kontext« versammelt Arbeiten aus der praktisch-theologischen Forschung, die in der konfessionellen Kultur der Reformierten verankert sind. er reformierte Kontext ist einerseits Gegenstand empirischer Wahrnehmung und kritischer Reflexion und andererseits das orientierende Erbe, aus dem Impulse für die zukünftige Gestaltung der religiösen Lebenspraxis gewonnen werden. Er bildet den Hintergrund der kirchlichen Handlungsfelder, prägt aber auch gesellschaftliche Dimensionen und individuelle Ausprägungen der Religionspraxis.

Luca Baschera

Die reformierte Liturgik August Ebrards (1818–1888)

Entstehung, Gestalt und heutige Relevanz

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich, unter Verwendung einer Fotografie von Andreas Hoffmann (Ausschnitt) aus der Serie »Krethi & Plethi. Christliches und Nachchristliches in Zürich«, 1999 © Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich und Katholische Kirche im Kanton Zürich

ISBN 978-3-290-17675-4 (Buch)
ISBN 978-3-290-17732-4 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2013 Theologischer Verlag Zürich
www.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

Anya
sine qua non

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Inhaltsverzeichnis

Titelei

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1 Ebrards Leben und Werk

1. Biographische Skizze

2. Theologisches Profil

2 Ebrards liturgisches und liturgiewissenschaftliches Werk

1. »Versuch einer Liturgik vom Standpunkte der reformierten Kirche« (1843)

2. »Reformirtes Kirchenbuch« (1847)

3. »Vorlesungen über Praktische Theologie« (1854)

3 Ebrards Liturgik

1. Das Wesen des Gottesdienstes

2. Akteure und Elemente des Gottesdienstes

2.1 Die Akteure

2.2 Die Elemente

3. Kunst und Gottesdienst

4. Typologie des Gottesdienstes

4.1 Die verschiedenen Gottesdienstformen

4.2 Die Feier des Gottesdienstes: Allgemeine Regeln

4.3 Die »organische Weiterentwicklung« der reformierten Liturgie

4.4 Das Kirchenjahr und die Frage nach der Perikopenordnung

4.5 Predigtgottesdienst I: Der Sonntagsgottesdienst

4.6 Predigtgottesdienst II: Die Festgottesdienste

4.7 Der Abendmahlsgottesdienst

4.8 Die Gebetsgottesdienste

4.9 Einzelne liturgische Handlungen

4 Profil der Liturgik Ebrards

1. Reformierte Prägung

2. Der Gottesdienst als »metamorphotisches Handeln«

|8| 5 Die bleibende Bedeutung der Liturgik Ebrards

1. Die Relevanz eines formativen Liturgieverständnisses

2. Die Aktualität des Ideals einer »organischen Weiterentwicklung«

Anhang: Ebrards Abendmahlsformular

Ein neues Formular

I. Gebet <Kollektengebet>

Chor (oder Gemeinde) <Gloria>

II. Der Pfarrer <Agnus Dei>

Chor

Der Pfarrer

Chor

Gebet

Gemeinde

III. Der Pfarrer <Einsetzungsworte und Abendmahlsvermahnung>

IV. Gebet <Epiklese>

Der Pfarrer

V. Austheilung (während eines Communionsliedes der Gemeinde)

VI. Gebet <Danksagung>672

Chor

Gebet

Gemeindegesang

Der Pfarrer <Segen>

Bibliographie

1. Abgekürzt zitierte Quellen und Literatur

2. Quellen

3. Literatur

Fussnoten

Seitenverzeichnis

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Vorwort

Die Behauptung, dass die Reformierten eigentlich keine Liturgie hätten und entsprechend wenig zur Liturgik beitragen könnten, ist zwar nicht neu, aber definitiv falsch. Natürlich sind »wir« im Vergleich mit der großen lutherischen Schwester- und der noch größeren römisch-katholischen »Mutter«-Kirche schon numerisch betrachtet eine Minderheit. Es erstaunt auch nicht, dass der Reflexionsbedarf der reformierten Liturgietradition mit ihrem starken Akzent auf dem schlanken Predigtgottesdienst weniger ausgeprägt ist als in Traditionen, die sich nach der Messe richten. Wo keine Perikopen sind, gibt es auch keinen Bedarf, Perikopenordnungen zu diskutieren oder zu revidieren, und wo man keine Agenden (mehr) kennt, ist es schwierig, eine gemeinsame Referenz zu erkennen.

Gleichwohl gibt es reformierte Liturgien und eine methodische Reflexion darüber, wie die Reformierten feiern, also eine reformierte Liturgik. Ersteres mag als eine Selbstverständlichkeit gelten. Wenn sich eine Gemeinde zum Gottesdienst versammelt, wird sie sich auch eine Ordnung geben oder wie Huldrych Zwingli dies programmatisch in seinem Entwurf einer Abendmahlsliturgie formulierte, ihre Aktion nach einem Brauch oder Ritus richten. Ich habe mich vor einigen Jahren eingehend mit der Liturgie und der Liturgik Zwinglis beschäftigt und den Begriff »Liturgik« etwas unvorsichtig verwendet. Denn die Reflexion der Riten, die man mit dem gräzisierenden Terminus belegt, ist noch nicht so alt. Die akademische Liturgik erwacht erst mit der Aufklärung zum Leben.

Dass auch die Reformierten von Anfang an diese akademische Liturgik pflegten, sollte eigentlich nicht erstaunen, aber man kennt die Exponenten nicht mehr. Das mag auch damit zu tun haben, dass dem Protestantismus mit Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher gleichsam ein Gigant erstanden ist, der alle anderen (reformierten) Theologen des 19. Jahrhunderts in den Schatten stellte. Mit dem vorliegenden Band wird das Werk eines Pioniers gewürdigt, der zur zweiten Generation der Liturgiker im 19. Jahrhundert gehörte und den großen Lehrer kritisch rezipierte. August Ebrard verdient es, dass man ihn auch aus dem Schatten des Vergessens holt. Denn er hat, wie diese Studie zeigen wird, einen eigenständigen Zugang zur Materie des Gottesdienstes. Vor allem gelingt es ihm, seine Reflexion der Riten auf gottesdiensttheologisch zu begründen. Darum lohnt es sich, die Impulse, die sich in seiner Liturgik finden lassen, wieder aufzunehmen und weiterzudenken. Es dürfte – in einer anderen Studie – auch reizvoll sein, die Fortsetzung dieser gedanklichen Linien zu verfolgen und aufzuzeigen, wo sie sich verloren haben und wo sie wieder auftauchen.

Die vorliegende Untersuchung möchte ich auch deshalb gerne in einem größeren Zusammenhang sehen. Ich bin der Meinung, dass die Diskussion über die |10| angemessene Feiergestalt des Glaubens nicht nur als Disziplin zur akademischen Theologie gehört, sondern entscheidend zu ihrer Vitalität und Aktualität beiträgt. Dass wir eine eigenständige liturgische und liturgiewissenschaftliche Reflexion pflegen, ist darum mehr als notwendig. Der Gottesdienst der Kirche ist keine quantité négligeable, sondern Quelle und Grund ihres Lebens. Eine Theologie, die sich (noch) als »Funktion der Kirche« versteht, kann es deshalb nicht gleichgültig sein, ob und wie über aber auch vom Gottesdienst her theologisch gedacht wird. Wenn man in diesem großen Bogen denkt, ist es nun doch auffällig, dass die Reformierten im europäischen Kontext zur Gottesdiensttheologie in den letzten Jahren wenig Neues zu sagen wussten, während vor allem die amerikanische Diskussion seit einiger Zeit sehr lebhaft verlief. Auf solche »neuen« Entwürfe, die viel Anregungspotential haben, kommt auch Dr. Baschera in dieser Untersuchung zu sprechen. Es gelingt ihm damit, eine Brücke zwischen der alten und der neuen reformierten Liturgik zu schlagen. Man kann nun hoffen, dass der Funke springt!

Denn was könnten wir unserer Kirche Besseres wünschen, als eine Erneuerung ihrer Liturgie?

Das dezidiert theologische Interesse an der verwandelnden Kraft des Gottesdienstes ist eine der Pointen von Ebrards Liturgik. Ich wünsche dem Buch deshalb viele Leserinnen und Leser. Die Gefahr, dass eine Ebrard-Schule entsteht, erachte ich für relativ gering; die Chance, dass die Lektüre Lust macht, tiefer in die Materie zu dringen, ist intakt. Ich wünsche anregende Lektüre.

Zürich am 1. Advent 2012

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Einleitung

Vieles, was im 19. Jahrhundert auf den verschiedensten Gebieten unternommen wurde, lässt sich als Reaktion auf bestimmte, für problematisch gehaltene Entwicklungen und Tendenzen im Zeitalter der Aufklärung (18. Jh.) verstehen. Die Liturgik – die »praktisch–theologische Reflexion des öffentlichen Gebetsdienstes«1 – stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar.

In der späten deutschen Aufklärung (ca. 1770–1815) rangen verschiedene Theologen um tiefgreifende Reformen des Gottesdienstes. Geleitet wurden sie dabei von der Überzeugung, der Gottesdienst in seiner traditionellen Gestalt könne angesichts der revolutionären Entwicklungen in Wissenschaft und Philosophie nicht mehr »als eine selbstverständlich gegebene, überkommene Einrichtung« betrachtet werden. Im neuen Zeitalter der Vernunft war die Existenz des Gottesdienstes ihrer Ansicht nach nur insofern zu rechtfertigen, als dieser Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks würde: »das moralische Verhalten als die eigentliche, wahre Religion zu fördern und die Menschen aller Stände zum vernünftigen Handeln anzuleiten«.2

Im Gegensatz zu diesem ausgesprochen pädagogischen und vernunftzentrierten Gottesdienstverständnis betonte man später vielmehr die Zweckfreiheit des Gottesdienstes als Ausdruck von religiösen Gefühlen. So erklärte etwa Joachim Christian Gaß3 (1766–1831) bereits 1815 in seiner Abhandlung Über den chrstlichen Cultus, dass »alle Verehrung der Gottheit […] aus dem religiösen Gefühl und dem natürlichen Bedürfnis, es zu offenbaren«,4 entspringe, und bezeichnete den Gottesdienst als »die ganz natürliche Offenbarung einer Seele […], in der Religion und Frömmigkeit wohnen«.5 Diese und ähnliche Impulse aufnehmend, verhalf sodann Friedrich Schleiermacher in seinen Vorlesungen zur »christlichen Sitte« und zur Praktischen Theologie dem neuen Gottesdienstverständnis zur Reife.6 Auf Schleiermacher geht unter anderem die Unterscheidung zwischen »wirksamem« und »darstellendem Handeln« der Kirche zurück, wobei der Gottesdienst ausschließlich als darstellend – d. h. als zweckfreie »Mittheilung des |12| stärker erregten religiösen Bewußtseins«7 – verstanden wurde, eine Auffassung, die in der Folgezeit und bis in die Gegenwart großen Einfluss ausgeübt hat.8

Ebenso charakteristisch für die Liturgik des 19. Jahrhunderts war eine intensivere Beschäftigung mit der Liturgiegeschichte sowie die Betonung der Notwendigkeit einer Besinnung auf die liturgische Tradition. Beides trat einerseits als Reaktion auf die vermeintlich gänzliche Traditions- und Geschichtsvergessenheit der Aufklärungsliturgik in Erscheinung, wurde andererseits aber auch durch weitere Faktoren angeregt. So setzten etwa die liturgischen Reformen in Preußen seit 1822 – die unter Rückgriff auf reformatorische Ordnungen eine unierte Agende zu schaffen versuchten – einen Reflexionsprozess in Gang, der liturgiegeschichtliche Forschungen förderte und sich zugleich aus diesen spies. Die Unionsbestrebungen im Königreich Preußen führten aber auch zu Abwehrreaktionen, vor allem innerhalb konfessionsbewusster lutherischer Kreise. Im damit entstandenen »Neuluthertum« – einer breit angelegten und in sich vielfältigen theologisch-kirchlichen Bewegung9 – entfaltete sich eine an reformatorischer (lutherischer) Theologie und historischer Forschung orientierte Liturgik, für die vor allem die »Erlanger Schule« mit Friedrich Höfling (1802–1853), Theodosius Harnack (1817–1889) und Carl von Zezschwitz (1825–1886) repräsentativ ist.10

In dieser bewegten Zeit verortet sich die Beschäftigung August Ebrards mit Fragen der Liturgik. In Erlangen hatte er studiert, wobei Höfling einer seiner Lehrer gewesen war. Mit ihm teilte Ebrard die Leidenschaft für die Erforschung der Liturgiegeschichte, wollte aber in seiner Arbeit als Liturgiker einen dezidiert – obwohl nicht konfessionalistisch beschränkten – reformierten Standpunkt vertreten. Ebenso dezidiert distanzierte er sich auch von der aufkommenden schleiermacherschen Orthodoxie, der er vor allem während seiner Zürcher Jahre (1844–1847) in der Person von Alexander Schweizer (1808–1888) begegnete.

Obwohl Ebrard einer der wenigen reformierten Theologen des 19. Jahrhunderts war, die sich ausführlich mit liturgischen Fragen beschäftigten, wurde sein Werk in der späteren Forschung kaum rezipiert. Vereinzelt und spärlich sind die Erwähnungen seines Namens in der neueren Literatur.

So merkte etwa Peter Brunner 1954 in der Einleitung zu seiner »Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde« an: »Vom reformierten Standpunkt aus ist in der deutschen Theologie des 19. Jahrhunderts unseres Wissens nur eine Liturgik entworfen worden: August Ebrard, Versuch einer Liturgik vom Standpunkte der reformierten Kirche, Frankfurt/M. 1843.«11 Obwohl |13| Brunner auf Ebrards Liturgik nicht näher eingeht, kann diese beiläufige Erwähnung des Erlanger reformierten Theologen durchaus als nüchterne Würdigung dessen Leistung auf einem Gebiet gelten, das von reformierten Autoren auch außerhalb des deutschen Sprachraums meist vernachlässigt wurde.

Ein Jahr später äußerte sich auch Paul Jacobs zu Ebrards liturgiewissenschaftlichen Leistungen im Rahmen einer Gesamtdarstellung von dessen Theologie. Das Urteil Jacobs’ ist aber alles andere als positiv:

Wenn der Name Ebrards überhaupt bekannt ist – etwa in theologisch interessierten Kreisen der reformierten Kirche – dann begreift man in ihm die schier einmalige Erscheinung eines »reformierten Liturgikers« nächst Zwingli. Dabei ist nun gerade dieser Name Ebrards von ganz zufälliger Bedeutung und hat mit der Eigenständigkeit seiner Theologie und mit dem Echo, das er in seiner Zeit fand, nichts zu tun. In Wahrheit verdient Ebrard nicht den Namen eines Liturgikers, weder im reformierten, noch im unierten oder irgendeinem andern Sinne. Dieser Name rührt von der frühen Jugendschrift des eben Fünfundzwanzigjährigen her, […] die im Vergleich zu den anderen Ebrardschen Werken nur ein kleines Opus von 75 Seiten war: »Versuch einer Liturgik vom Standpunkt der reformierten Kirche«, 1843. […] diese Schrift [ist] nicht etwa als Grundlegung einer reformierten Liturgik anzusehen […]. Dazu ist sie weder genügend prinzipiell angelegt, noch wissenschaftlich unterbaut. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass sie ohne Echo blieb und Ebrard selbst nicht verpflichtete, auf diesem Gebiet weiter zu arbeiten […].12

Als wollte Jacobs die Meinung seines Heidelberger Kollegen Brunner widerlegen, stellt er deutlich in Abrede, dass Ebrard überhaupt als Liturgiker zu betrachten sei.

Interessanterweise findet sich in Jacobs’ Monographie keine nähere Behandlung der Liturgik Ebrards, die sein vernichtendes Urteil untermauern würde. Dass Jacobs dabei einer gewissen Voreiligkeit verfiel, scheint bereits dadurch bestätigt zu werden, dass er den Versuch einer Liturgik als die einzige liturgiewissenschaftliche Schrift Ebrards betrachtet, während sich der Erlanger Theologe in der Tat auch in zwei weiteren Schriften zu Fragen der Liturgik äußerte.13 Allerdings kann die Angemessenheit seines Urteils nur durch eine Gesamtuntersuchung der Liturgik Ebrards überprüft werden, ein Unterfangen, das bisher niemand in Angriff genommen hat. Einer solchen Untersuchung widmet sich die vorliegende Studie.

Auf eine Darstellung von Ebrards Lebenslauf und dessen theologischem Profil (Kapitel 1) folgt im zweiten Kapitel eine Beschreibung der für die Erörterung von Ebrards Liturgik relevanten Quellen. Das dritte Kapitel bietet eine systematische Analyse der Liturgik Ebrards, die auf deren Prinzipien und materielle Entfaltung |14| eingeht. Die drei liturgiewissenschaftlichen Schriften Ebrards werden parallel untersucht und miteinander verglichen, wobei dem Einfluss verschiedener liturgischer Traditionen sowie etwaigen Veränderungen bzw. Ergänzungen in Ebrards Ansatz besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im vierten Kapitel werden sodann die Spezifizität von Ebrards Gottesdienstverständnis im Vergleich mit den Entwürfen zweier zeitgenössischer reformierter Theologen – Salomon Vögelin und Alexander Schweizer – herausgearbeitet. Im fünften Kapitel werden schließlich zwei Aspekte von Ebrards Gottedienstverständnis hervorgehoben, die auch für die heutige reformierte Liturgik keineswegs an Relevanz verloren haben.

Die Behandlung der Liturgik dieses weitgehend vergessenen reformierten Theologen aus dem 19. Jahrhundert erfolgt somit nicht etwa zur Befriedigung eines antiquarischen Interesses, sondern entspringt der Überzeugung, dass auch die heutige reformierte Liturgik Einiges von Ebrard lernen kann. Erkannte er den Bedarf einer »Weiterentwicklung« reformierter Liturgie an, so wehrte er sich gegen vorschnelle Vermischungen unterschiedlicher Traditionen sowie gegen theologisch unreflektierte Neuerungen. Vielmehr plädierte er für eine Integration von verschiedenen Strängen der spezifisch reformierten liturgischen Tradition, die sich gegenseitig befruchten und ergänzen sollten. Darüber hinaus betonte er nachdrücklich die transformative Wirkung der Liturgie auf die sie feiernden Gemeindeglieder und entwickelte ein Gottesdienstverständnis, das eine große Ähnlichkeit mit den Entwürfen etlicher heutiger Liturgiker aufweist.

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1 Ebrards Leben und Werk

1. Biographische Skizze

Johann Heinrich August Ebrard wurde am 18. Januar 1818 in Erlangen geboren. Sein Vater, François Elie (1765–1826), war 1801–1804 preußischer Konsistorialrat in Ansbach gewesen und wurde 1811 Pfarrer der Erlanger französisch-reformierten Gemeinde.14 Ebrard, der bereits als Kind wegen seiner geistigen Begabung Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, studierte Theologie in Erlangen, u. a. beim Reformierten Johann Christian Krafft (1784–1845), der großen Einfluss auf ihn ausübte, und beim Lutheraner Adolf von Harleß (1806–1879).15 Nach der Promotion zum Dr. phil. im Jahr 1841 erwarb er 1842 die venia legendi in Theologie und begann seine Lehrtätigkeit in Erlangen mit Vorlesungen über das Alte und Neue Testament, aber auch über schweizerische Kirchengeschichte. Ebenfalls im Jahr 1842, im Alter von 24 Jahren, veröffentlichte er sein erstes umfangreiches Werk: Wissenschaftliche Kritik der evangelischen Geschichte. Ein Compendium der gesamten Evangelienkritik. Diese Monographie machte ihn in theologischen Kreisen breit bekannt als Verfechter der Geschichtlichkeit der Evangelienberichte gegen die Deutung von David Friedrich Strauß. Gerade aufgrund seiner entschiedenen Kritik an Strauß erhielt Ebrard zwei Jahre später einen Ruf nach Zürich,16 den er auch annahm. Kurz vor seiner Abreise in die Schweiz veröffentlichte er seine erste liturgiewissenschaftliche Schrift, den Versuch einer Liturgik vom Standpunkte der reformirten Kirche 17 (1843).

Zwischen September 1844 und dem Spätsommer 1847 war Ebrard außerordentlicher Professor für alt- und neutstamentliche Exegese in Zürich. Im Laufe von fünf Semestern (SS 1845–SS 1847) hielt er fünfzehn Lehrveranstaltungen, darunter dreizehn Vorlesungen und zwei »exegetische Conversatorien«. Obwohl sich seine Vorlesungen entsprechend der Bestimmung seines Lehrauftrags mehrheitlich mit dem Alten und dem Neuen Testament befassten, las Ebrard auch zweimal über »Theologische Encyklopädie« (SS 1845 und SS 1847), einmal über »Geschichte der schweizerischen Reformation« (WS 1845/46) sowie einmal – und erstmals in |16| der Geschichte der Zürcher Universität überhaupt – über Kirchenrecht18 (WS 1845/46).19 Während seines letzten Semesters in Zürich war Ebrard Dekan der Theologischen Fakultät. Seit Beginn seines Zürcher Aufenthalts bekleidete er zudem das Amt eines Unterbibliothekars in der Kantonalbibliothek (heute Zentralbibliothek Zürich).20 Dort fand er zahreiche alte reformierte Liturgiebücher vor, die er sorgfältig studierte und zur Fertigstellung seines Reformirten Kirchenbuches21 (1847) verwendete.22

Ebrards Berufung an die Zürcher Fakultät war umstritten gewesen und von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kirchenrat, Fakultät und Studentenschaft begleitet worden, die ironischerweise an den Streit in Zürich um die Berufung von Ebrards Antagonisten Strauß erinnern.23 Darüber hinaus waren die Jahre 1844–1847 durch zahlreiche Konflikte zwischen dem konfessionsbewussten Ebrard und den liberalen Kreisen in und außerhalb von Zürich gekennzeichnet. So reagierten etwa Ebrard und sein »positiver« Kollege Johann Peter Lange24 (1802–1884) auf die Gründung der Zeitschrift Kirche der Gegenwart durch den Linkshegelianer Alois Emanuel Biedermann (1819–1885), indem sie 1844 als Gegenstück die Zeitschrift Die Zukunft der Kirche ins Leben riefen.25 Ebrards kompromissloser Konservatismus wirkte sich auch unter den Studenten polarisierend aus26 und trug allgemein zu seiner zunehmenden Isolierung bei, vor allem nach der Rückkehr der liberalen Regierung 1845.27 Sein schlechter Ruf unter den Liberalen sei u. a. für die Ablehnung seines Antrags auf ein Ordinariat Ende 1846 – nachdem Ebrard einen Ruf an die protestantische Hochschule in Wien abgelehnt hatte – ausschlaggebend gewesen: »Der gewöhnlichste Anstand |17| würde es geboten haben, mir den Titel Ordinarius zu geben […]. Allein den Schweizer Radikalen ging der Parteistandpunkt über jede Rücksicht. Ich bekam auf meine Eingabe gar keine Antwort.«28 1847 wurden Ebrard und Lange von ihrem berühmten Zürcher Kollegen Alexander Schweizer (1808–1888) in einem in der Zeitschrift Kirche der Gegenwart veröffentlichten Artikel heftig attackiert,29 auf den Ebrard in seiner eigenen Zeitschrift Zukunft der Kirche antwortete.30 Selbst dessen Verhältnis zu Lange war aber seit der Veröffentlichung des zweibändigen Werks Das Dogma vom heiligen Abendmahl und seine Geschichte (1846), in dem Ebrard Lange kritisiert hatte, angespannt.31

Angesichts dieser Umstände ist es nicht verwunderlich, dass Ebrard der Berufung an die theologische Fakultät seiner alma mater als erster Inhaber des neu errichteten Lehrstuhls für reformierte Theologie32 Folge leistete. Sein Interesse an diesem Lehrstuhl – über dessen Einrichtung man bereits seit 1845 diskutiert hatte33 – hatte er während eines kurzen Aufenthaltes in Erlangen im Frühjahr 1847 offiziell bekundet.34 Einerseits war Ebrard deshalb erleichtert, als der offizielle Ruf nach Erlangen ihn Ende Juli 1847 erreichte; andererseits empfand er den Abschied von Zürich dennoch als schmerzlich: »Daß ich von Zürich scheiden sollte, […] war ein Weh, ein recht tiefes Weh.«35

Im Herbst 1847 trat Ebrard die Professur in Erlangen an; kurz danach, im Dezember, wurde ihm von der Universität Basel der Titel eines Doktor der Theologie honoris causa verliehen.36 In den folgenden Jahren widmete er sich vornehmlich der Dogmatik, las aber auch über beide Testamente und über Praktische Theologie. Darüber hinaus gründete er 1851 die Reformirte Kirchenzeitung, deren Chefredaktor er bis 1853 war. Die Jahre als Professor in Erlangen waren für Ebrard ruhig und ausgesprochen ertragreich: Neben der zweiten Auflage |18| seiner Wissenschaftlichen Kritik der evangelischen Geschichte (1850) veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze, einen Kommentar zum Hebräerbrief (1850) sowie seine zweibändige Christliche Dogmatik (1851/52). Zudem engagierte sich Ebrard während der Wirren des Jahres 1848 gegen die »Rothen«, die seines Erachtens nicht nur politische Anliegen verfolgten, sondern auch einen geistigen Kampf gegen das Christentum führten.37

Ebrards akademische Karriere kam dennoch zu einem vorzeitigen Ende, als er am 16. März 1853 als Konsistorialrat der seit 1848 von München unabhängig gewordenen unierten Kirche der Pfalz berufen wurde. Wie er später erfahren sollte, war seine Ernennung von der »strenglutherischen Partei« in Bayern angeregt worden, die durch Ebrards Versetzung die Position der Reformierten an der Erlanger Fakultät schwächen wollte.38

Die Vereinigte protestantisch-evangelisch-christliche Kirche der Pfalz war 1818 aus dem Zusammenschluss der reformierten und lutherischen Gemeinden im Gebiet der linksrheinischen Pfalz, das 1816 an Bayern gekommen war,39 entstanden. Anders als in Preußen (1817) kam die Union in der Pfalz allerdings nicht durch einen obrigkeitlichen Beschluss, sondern durch Abstimmung in den Gemeinden zustande. Eine gemeinsame, 1818 in Kaiserslautern tagende Synode hatte zwar die Union formalisiert, aber – im Geist des Rationalismus – auf die Festlegung einer Bekenntnisgrundlage verzichtet.40 Darüber hinaus war die Presbyterialordnung im Zuge der Revolution 1848 in eine – so Ebrard – »kirchliche Ochlokratie«41 verwandelt worden.42 Es ist somit verständlich, dass sich der neugewählte, konfessionsbewusste Konsistorialrat Ebrard nun für eine tiefgreifende, sowohl die Bekenntnisgrundlage als auch die Kirchenverfassung betreffende Reform der pfälzischen Landeskirche einsetzte.

Die erste Aufgabe, die Ebrard nach seiner Ernennung übernahm, war die Abfassung eines neuen Katechismus, dessen Entwurf bereits 1853 von der Generalsynode genehmigt wurde.43 Im selben Jahr gelang es Ebrard, von der Generalsynode die Confessio Augustana Variata44 (1540) – die »urkundlich den Consensus |19| zwischen lutherischer und reformierter Lehre dar[stellt]«45 – als offizielles und verbindliches Glaubensbekenntnis der pfälzischen Landeskirche einführen zu lassen.46 Sowohl die Verfassung eines Unionskatechismus als auch die Einführung eines für die pfälzische Kirche in ihrer Gesamtheit – d. h. für Reformierte und Lutheraner zugleich – geltenden Glaubensbekenntnisses waren in den Augen Ebrards unerlässliche Schritte hin zu einer wahren Union.47 Obwohl einige Pfarrer der Ansicht waren, dass es einem jeden Geistlichen überlassen werden sollte, in seiner Gemeinde im Sinne der lutherischen oder der reformierten Lehre zu predigen, konnten sich diejenigen, welche die Position Ebrards vertraten, letztlich durchsetzen. Auch die Verhandlungen über die Reform der Wahlordnung endeten mit einer Genehmigung des Antrags Ebrards um Wiederherstellung der Regeln von 1818.48 Obwohl Ebrard in diesen Jahren von seinen vielen Verpflichtungen als Konsistorialrat stark in Anspruch genommen wurde, fand er dennoch die nötige Muße, um seine Vorlesungen über Praktische Theologie für den Druck (1854) vorzubereiten.49

Hatte Ebrard bezüglich Katechismus, Bekenntnis und Kirchenverfassung – wie er schreibt – »einen glänzenden Sieg«50 errungen, so scheiterten seine Bemühungen schließlich an der Reform des Gesangbuchs, die von der Generalsynode 1853 ebenfalls in Auftrag gegeben worden war. Bereits 1856 hatte Ebrard zusammen mit seinem Kollegen Friedrich Börsch51 einen Entwurf mit 353 Liedern erarbeitet.52 Der Entwurf wurde in den folgenden zwei Jahren immer wieder überarbeitet und erweitert, sodass die Endfassung 1000 Lieder umfasste.53 Diese wurde von König Maximilian II. – der im Sinne des »Summepiskopats« die Kirchenleitung innehatte – am 2. Juli 1858 genehmigt und lag im April 1859 gedruckt vor.54 Gegen die Einführung des neuen, in der Textwahl »positiv« ausgerichteten Gesangbuchs protestierten zuerst nur rationalistisch gesinnte Gruppen, denen sich dann auch die Kreisregierung anschloss.55 Da aber der König der festen Überzeugung war, dass »sanktionierte Beschlüsse einer Generalsynode« nicht |20| umgestoßen werden dürften,56 blieben die Proteste zunächst erfolglos. Erst ein sich 1860 entzündeter juristischer Streit leitete eine neue Entwicklung ein, die letztlich zur Niederlage der Reformbemühungen Ebrards führen sollte. Zur Debatte stand die Rechtsgültigkeit der Wahlordnungsreform aus dem Jahr 1853. Der von der pfälzischen Generalsynode genehmigte Entwurf war nämlich vom Ministerium in München geringfügig bearbeitet worden und in dieser Form in Kraft getreten, ohne dass offenbar eine explizite Genehmigung der abgeänderten Vorlage durch den König erfolgt war.57 Wurde aber die Gültigkeit der Wahlordnungsreform 1853 angezweifelt, so musste auch diejenige sämtlicher seither erfassten Synodalbeschlüsse in Frage gestellt werden. Dies bewirkte letztlich, dass der König 1861 eigenmächtig nicht nur das neue Gesangbuch, sondern auch den Unionskatechismus abschaffte und kurz darauf die alte Wahlordnung aus dem Jahr 1848 wieder einführte.58 Infolge solcher in Ebrards Augen höchst verwerflichen Entwicklungen sah er sich gezwungen, sein Amt niederzulegen.59

Ebrard erhielt seinen Abschied am 20. April 1861 und kehrte nach Erlangen zurück, konnte aber seine Professur nicht wieder antreten, denn in der Person von Johann Jakob Herzog60 (1805–1882) war sein Nachfolger bereits gewählt worden. Ab 1862 wurde ihm dennoch gestattet, an der Universität als Emeritus Vorlesungen zu halten.61 Im folgenden Jahrzehnt widmete er sich einer regen publizistischen Tätigkeit. Neben einer zweibändigen Apologetik (1874/75), einem vierbändigen Handbuch der christlichen Kirchen- und Dogmengeschichte (1865/66) und zahreichen Aufsätzen veröffentlichte Ebrard auch sieben Romane sowie Abhandlungen über Akustik und Farbenlehre.62 Im Alter von 57 Jahren wurde er zuletzt – wie sein Vater etliche Jahrzehnte zuvor – Pfarrer der französisch-reformierten Gemeinde in Erlangen, ein Amt, das er bis an sein Lebensende 1888 bekleidete.

Angesichts der erstaunlichen Produktivität Ebrards als Publizist ist es bemerkenswert, dass er bald nach seinem Ableben in fast vollkommene Vergessenheit geriet. Karl Eduard Haas vermutet, dass dies einerseits durch die fehlende Gründlichkeit einiger seiner Schriften bedingt sei – man denke vor allem an seine |21| Streitschriften gegen Schweizer –, andererseits aber auch durch seinen polemischen Eifer, der ihn sehr unbeliebt machte.63

2. Theologisches Profil

Martin Kähler rechnet Ebrard zusammen etwa mit August Neander, Carl Immanuel Nitzsch und Julius Müller der Gruppe »kirchlich-pietistischer Vermittlungstheologen« zu, die eine »Verbindung zwischen Christentum und Bildung« dadurch anstrebten, »daß die Bildung durch das Christentum bestimmt wird, also durch Christianisierung der Bildung«.64 Das Urteil Kählers wird von Ebrard selbst bekräftigt, der gerade die Arbeiten Nitzschs und Müllers als Früchte des »Wiedererwachens des Glaubens« in seinem Jahrhundert und als Beispiele »gläubiger Theologie« betrachtet.65 Die Nähe Ebrards zur Erweckungstheologie – deren Vertreter sowohl Neander als auch Müller waren66 – wird darüber hinaus dadurch bestätigt, dass Ebrard beide Hauptanliegen dieser theologischen Ausrichtung teilte: einerseits den Kampf gegen die »liberale« oder »freie Theologie« eines Strauß oder Biedermann, andererseits die Abwehr stur konfessionalistischer Positionen wie jener der neulutherischen restaurativen Theologie.67

Ebrards Absage an den Konfessionalismus wird in der Vorrede zum zweiten Band seiner »Christlichen Dogmatik« deutlich formuliert: »Ein anderes ist der Glauben in Christum, ein anderes der Glauben oder richtiger die Ueberzeugung von der Richtigkeit eines Dogma’s oder Bekenntnisses. […] Der erstere soll felsenfest und über jeden Zweifel erhaben sein; die letztere muß auf Grund des ersteren fort und fort neu an der h[eiligen] Schrift geprüft werden, da weder die Väter noch ich selber infallibel waren.«68697071|22|727374