Theologische Studien NF 5 – 2012

Thomas Schlag


Öffentliche Kirche

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Wie spät ist es für die Volkskirche?

II. Öffentliche Herausforderungen

1. Ignorierungsstrategien

2. Kirchliche Selbstinfragestellungen

3. Plausibilitätsverluste der Theologie

4. Herausforderungen der Zivilgesellschaft

III. Gute Gründe für eine kirchentheoretische Neuorientierung

1. Gute Traditionen öffentlicher Verkündigung

2. Zeiten besonderer Dringlichkeit

3. Die Rede von einer public church

4. Systematische Reflexionen über eine public theology

5. Kirchentheoretische Ansätze und die Rede von der öffentlichen Kirche

5.1 Der öffentliche Auftrag von Kirche als Institution

5.2 Der öffentliche Auftrag von Kirche als Organisation

5.3 Der öffentliche Auftrag von Kirche als Mission

IV. Grunddimensionen einer praktisch-theologischen Kirchentheorie in der Perspektive einer öffentlichen Kirche

1. Kirche als intermediäre Institution

2. Theologische Leitperspektiven einer praktisch-theologischen Ekklesiologie

2.1 Zur Leitperspektive christlicher Freiheit

2.2 Zur Leitperspektive christlicher Verantwortung

2.3 Zur Leitperspektive christlicher Hoffnung

2.4 Kirchentheoretische Folgerungen

2.5 Theologische Kommunikation als kirchentheoretische Perspektive

3. Ebenenvielfalt der öffentlichen Kirche

3.1 Makroebene – Öffentlichkeitsdimensionen von Kirchengemeinschaft und Kirchenbund

3.2 Mesoebene – Öffentlichkeitsdimensionen der Landeskirchen

3.3 Mikroebene – Öffentlichkeitsdimensionen der lokalen Kirchengemeinde

3.4 Kirchliche Interaktionsqualität

V. Konsequenzen für die kirchliche und gemeindliche Praxis

1. Öffentliche Bildung

2. Diakonisches Engagement

3. Die Öffentlichkeit des Pfarrberufs

4. Partizipatorische Gemeindeentwicklung

5. Freiwilliges Engagement in der gemeindlichen Öffentlichkeit

VI. Öffentliche Praktische Theologie als Wissenschaft

Literaturverzeichnis

Fußnoten

Seitenverzeichnis

|7| »Zu Gottes Wirklichkeit gehören die Aufbrüche in das Unbekannte, Neue. Exodus des Gottesvolkes, das Ende der Gefangenschaften, politisch und individuell.«

»Eine Gesellschaft, die nicht genug Trainings- und Lebensfelder für Partizipation und Emanzipation anbietet, wird sterben wie die Diktatur.«

(Joachim Gauck, 1997)1 |8|

|9| Vorwort

In den gegenwärtigen kirchlichen Reformlandschaften mangelt es nicht an Orientierungsangeboten. In Gestalt von Impuls- und Strategiepapieren, Leitbildern, kirchenleitenden Erklärungen und strategischen Think-Tanks sowie in einer inzwischen unüberschaubaren Zahl von digital dokumentierten Projekten und Initiativen einzelner Gemeinden werden tagtäglich und »in Echtzeit« neue Entwicklungsideen manifest, verbreitet und diskutiert. In einem Teil des gegenwärtigen kirchlichen Lebens wird eine Fülle von Visionen und kreativen Ideen offenbar. Zudem sind in den letzten Jahren an verschiedenen theologischen Fakultäten Zentren und Institute zur Analyse und Interpretation gegenwärtiger kirchlicher Praxis ins Leben gerufen worden, so dass auch auf Seiten der praktisch-theologischen Wissenschaft eine wachsende Sensibilität für die notwendige Neuvermessung der Landschaft zu konstatieren ist.

Zugleich aber sind fundamentale, um nicht zu sagen dramatische, Veränderungen einer bisher wie selbstverständlich auf die Kirche bezogenen Bindungs- und Beteiligungsbereitschaft festzustellen. Die eigentliche Problematik der gegenwärtigen Situation liegt möglicherweise aber weniger in den faktischen Zahlen des Mitgliederschwundes und der konstatierten Austrittsbereitschaft als vielmehr in den noch kaum sichtbaren und doch spürbaren inneren Emigrationsbewegungen vieler Mitglieder. Dabei zeigt sich dies nicht im Sinn enttäuschter Abwendung, sondern als eine zunehmende emotionsarme Haltung absichts- und erwartungsloser Distanz zu den Inhalten und Praktiken von Kirche und Gemeinde.

Ob die großen Volkskirchen tatsächlich, wie von manchen prognostiziert, an einem grundsätzlichen Scheideweg stehen, ist dabei weniger relevant als die Frage, wie mit dieser Herausforderung der einerseits deutlich erkennbaren und der andererseits ganz stillen Traditionsabbrüche umgegangen werden kann und soll.

Angesichts dieser ambivalenten Dynamik zwischen Aufbruch und Abbruch erscheint es so herausfordernd wie notwendig, nochmals in grundsätzlicher Weise nach möglichen kirchentheoretischen Deutungskategorien für die praktisch-theologischen Analysen und Interpretationen des gegenwärtigen Kirche-Seins zu fragen. Dies soll in der vorliegenden Studie dadurch unternommen werden, dass Kirche in ihrem Selbstverständnis, ihren Gestaltungsformen und in ihrer Praxis in entscheidendem Sinn als öffentliche Kirche konzipiert wird. Wie sich dieses Leitprinzip in den institutionellen Vollzugsformen sachgemäß entfalten kann, soll ebenfalls Gegenstand der hier angestellten Überlegungen sein.

|10| Dabei bezieht sich die vorliegende Studie vornehmlich auf die Situation der protestantischen Kirchen in Deutschland und der Schweiz, da der Autor aufgrund der eigenen biographischen und berufsbiographischen Verortung und seines Grenzgängerdaseins mit beiden Kontexten vergleichsweise gut vertraut ist. Integriert wird aber auch die gegenwärtige breite internationale systematisch-theologische Diskussion zu einer public theology im Sinn der öffentlichen Verantwortung für Gesellschaft und Gemeinwesen. Damit soll zum einen zum Ausdruck gebracht werden, dass Überlegungen zu einer praktisch-theologischen Kirchentheorie auf den innertheologischen disziplinübergreifenden Dialog unbedingt angewiesen sind. Zum anderen soll dadurch deutlich werden, dass es zur Bearbeitung der aktuellen Herausforderungen für die protestantische Theologie notwendig ist, zukünftig sehr viel stärker über den eigenen lokalen Horizont hinauszublicken und sich dabei auch von der Dynamik des kirchlichen Aufbruchs in ganz anderen internationalen Kontexten inspirieren zu lassen.

Welche institutionellen und praktischen Konsequenzen die hier vorgestellten kirchentheoretischen Überlegungen und deren exemplarische Konkretisierung auf einzelnen Handlungsfeldern aber letztlich für die zukünftige Praxis erlangen können, ist aus guten protestantischen Gründen den Verantwortlichen vor Ort selbst und deren kreativer Kirchen- und Gemeindeentwicklung zu überlassen.

Herzlich danke ich meinen Erstlesern, dem Freund und Kollegen Prof. Dr. Henrik Simojoki, Dr. Frank Weyen, Mitarbeiter am Zürcher Zentrum für Kirchenentwicklung, den deutschschweizerischen und zürcherischen Praktisch-Theologischen Sozietäten und hier insbesondere meinem Zürcher Kollegen Prof. Dr. Ralph Kunz für vielfältige Anregungen sowie wichtige und weiterführende Kommentierungen. Für die Unterstützung in der Recherche und Beschaffung der Literatur und die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts danke ich meiner Mitarbeiterin Salome Probst. Zu danken ist schließlich für die wie immer außerordentlich verlässliche und geduldige Begleitung sowie das Lektorat vonseiten des Theologischen Verlags Zürich in Person von Marianne Stauffacher.

Gewidmet sei diese Studie in herzlichster Dankbarkeit meiner Schwester Sylvia, deren wohlwollend-kritische, keineswegs selbstverständliche Verbundenheit mit der Volkskirche den verantwortlichen Akteuren in praktisch-theologischer Wissenschaft und Kirche als nicht untypische Haltung intensiv zu denken geben kann.

Thomas Schlag, an Ostern 2012

|11| I. Wie spät ist es für die Volkskirche?

Nimmt man die gegenwärtige Kirchenreformrhetorik im Bereich der protestantischen Kirchen wahr und ernst, dann drängt die Zeit wie noch nie. In Zweifel steht nicht weniger als die Zukunft der Kirche überhaupt – mindestens in ihrer gegenwärtigen sichtbaren Sozialgestalt.

Vor allem die Volkskirche und all das, was sich um diesen Begriff rankt, wird zunehmend infrage gestellt: Die Rede ist dann nicht mehr nur ganz unaufgeregt von einer späten Zeit der Volkskirche2, einer Volkskirche im Wandel3 oder deren notwendiger Modernisierung4. Sondern im zugespitzten Sinn wird von einer Volkskirche »ohne Volk«5 und einem Auslaufmodell gesprochen, dem keine gute Zukunft, sondern das absehbare Ende beschieden sei. Für manche zeichnet sich ein eindeutiger und notwendiger Weg von der Volkskirche zu »personalgemeindlichen Organisationsformen, […] zielgruppenorientierten Gemeinschaftsbildungen und zur Entwicklung alternativer Projekte«6 ab. Ausgerufen wird schließlich die baldige Umwandlung von der Mitgliedschafts- und Servicekirche des Volkes hin zu einer entschieden bekenntnis- und freiwilligkeitsorientierten »Kirche für das Volk«7 in »nach-volkskirchlicher Zeit«8 sowie hin zu ganz neuen Manifestationen der »Gemeinde der Heiligen«9.

Begründet werden solche negative Zukunftsprognosen zum einen mit Zahlen und Fakten, konkret mit den kaum bestreitbaren demographischen Kennziffern eines stetigen Mitgliederschwundes sowie den damit verbundenen finanziell folgenreichen Entwicklungen.10 Zum anderen beruhen die Schreckensszenarien gleichsam auf gefühlten negativen Trends: So wird etwa ein spürbar geringer gewordener öffentlicher Einfluss der Kirche auf gesellschaftliche Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse konstatiert sowie der weitreichende Verlust des kulturellen Gedächtnisses in Bezug auf biblische |12| Überlieferungsgehalte und kirchliche Traditionen im Sinn eines massiven und unumkehrbaren Traditionsabbruchs beklagt.

Prinzipiell gilt nun allerdings: Ob die faktische Lage der protestantischen Volkskirche so schlecht ist, wie es gegenwärtig in oftmals erheblicher Aufregung suggeriert wird, bedürfte jedenfalls eines Blickes weit über die faktischen Zahlen hinaus. Apokalyptische Visionen, was im Fall einer ausbleibenden oder erfolglosen Kirchenreform an Haupt und Gliedern passieren könnte, helfen nicht wirklich, sondern steigern eher die Hysterie und führen über den beklagten Reformstress11 im schlimmsten Fall sogar zur Reformparalyse.

Gleichwohl kann man angesichts aktueller Zahlen in der Tat fragen, ob der Begriff »Volkskirche« als Signatur eines bestimmten empirisch belegbaren Struktur- und Praxisbegriffs12 sowie der damit verbundene Anspruch nicht tatsächlich ausgedient haben – man denke hier etwa nur daran, dass in der Schweiz die Mitgliedschaftsquote der Protestanten und Katholiken von 98 Prozent im Jahr 1970 inzwischen um ein Drittel niedriger ausfällt und auch die Zahl der jährlichen Austritte aus den deutschen evangelischen Landeskirchen in etwa derjenigen der Dauerteilnehmenden eines Deutschen Evangelischen Kirchentages entspricht.

Allerdings ist mindestens Vorsicht geboten, wenn bestimmte gefühlte Einschätzungen sogleich als harten Fakten ausgegeben werden. Denn das Gefühl einer fundamentalen Krise der Kirche sagt über die Realität der Verhältnisse nicht unbedingt schon alles aus. Zudem ist zu bedenken, dass gerade eine pessimistische Sicht auf die Kirche in Art einer self-fulfilling prophecy einem solchen Szenario möglicherweise überhaupt erst den richtigen Schub verleiht.

Wie auch immer man nun die Bedeutsamkeit der Fakten und die Dramatik der Wahrnehmungen bestimmt, ist doch von einer grundlegenden institutionellen und vor allem theologischen Orientierungskrise13 auszugehen, die sich in den vergangenen Jahren sicherlich weiter verschärft hat und deren Ende man zwar erhoffen, aber mit dem man realistischerweise kaum rechnen kann.

Besteht also noch Grund für eine Vorstellung von Volkskirche, die von der Öffentlichkeitspräsenz der Kirche als relevantem Teilsystem der Gesellschaft ausgeht? Kann noch von der Hoffnung auf eine Kirche geredet werden, die sich durch eine prinzipielle Erreichbarkeit für alle Menschen zu |13| erkennen gibt? Und kann dies dann zugleich Pluralität innerhalb ein und derselben Kirche in einer solchen Weise gewährleisten, dass auch eine eher distanzierte Mitgliedschaft als legitime Form, Kirchenzugehörigkeit wahrzunehmen, respektiert wird? Und wie kann dabei zukünftig die Spannung des Verhältnisses von Kirche und Staat zwischen Unabhängigkeit und Kooperation konstruktiv gestaltet werden?14

In der hier vorgelegten Abhandlung soll die These entfaltet werden, dass die Grund- und Ursprungsidee von Volkskirche im Sinn eines normativen Konzeptbegriffs15 einer gesamtgesellschaftlichen Deutungs- und Handlungsinstanz immer noch ein ebenso bedeutsames wie plausibles und zukunftsfähiges Modell von Kirche darstellt16 – allerdings unter einer bestimmten Voraussetzung: Eine positive Zukunftsvision muss einen gleichsam anderen Aggregatzustand von Kirche mit sich bringen: Die konzeptionelle Form einer öffentlichen Kirche als zivilgesellschaftlich relevanter, intermediärer Institution, die sich ihrer Artikulations- und Handlungsverantwortung bewusst ist und diese auch von der Grundlage ihres ekklesiologischen Selbstverständnisses her auszuüben versteht.

Von einer Bestimmung als intermediäre Institution her soll öffentliche Kirche als Raum freier, verantworteter und hoffnungsvoller kirchlicher wie zivilgesellschaftlicher Deutungs- und Vermittlungspraxis näher gefasst werden. |14| Durch diese konzeptionelle Näherbestimmung als intermediäre Institution im Sinn einer die Gesellschaft kritisch interpretierenden und mitgestalteten Kirche wird der Charakter des hier anvisierten kirchentheoretischen Anspruchs in der Linie einer »theologischen Gesellschaftstheorie«17 zum Ausdruck gebracht. Diese umfasst dann ihrer Sache nach sehr viel mehr als Fragen des Gemeindeaufbaus und einer Kybernetik im engeren Sinn18, sondern versteht sich als Beitrag zu einer weiterreichenden Grundlagenbildung im Sinn einer umfassenden »Gestaltungstheorie aller kirchlichen Ebenen, Handlungspositionen und Handlungsmedien«19.

Eine solche konzeptionelle Profilierung macht in praktisch-theologischer Hinsicht die kirchentheoretische Verständigung über die Bedeutung und Bedeutsamkeit einer öffentlichen Kirche ebenso notwendig wie die genauere Betrachtung der jeweiligen Möglichkeiten und Zuständigkeiten, was durch eine differenzierte Darstellung der kirchlichen Makro-, Meso- und Mikroebene zur Sprache kommen wird.

Angestrebt ist damit zwar keine grundsätzliche Neubestimmung, aber doch eine theologische Neubesinnung auf die Grunddimensionen der unterschiedlichen Sozialgestalten von Kirche, um so die Strategieentwicklung hin zu einer wirksameren öffentlichen Präsenz des Protestantismus inmitten der Gesellschaft zu befördern. Diese Neubesinnung unter der Signatur einer öffentlichen Theologie lässt sich – um es hier schon einmal anzudeuten – von evangelischer Seite her in den theologisch relevanten und auf die je individuelle Lebensführung und die gemeinsamen Handlungsvollzüge beziehbaren Leitperspektiven Freiheit, Verantwortung und Hoffnung konkretisieren. Zudem wird zu zeigen sein, inwiefern sich dies auf die Kommunikations- und Gestaltungsprozesse auf den unterschiedlichen kirchlichen Handlungsfeldern auswirkt. Vor dem Horizont einer theologisch profilierten Deutungs- und Kommunikationsoffenheit kommt folglich die konzeptionelle Grundidee von Volkskirche zum Vorschein – als einer öffentlichen Kirche, die den Blick auf die Gesellschaft und alle in ihr lebenden Menschen richtet.20 Welche Herausforderungen |15| dies für eine Praktische Theologie als Wissenschaft mit sich bringt, wird abschließend entfaltet werden.

Der Entfaltung der einzelnen Grunddimensionen liegt dabei ein bestimmtes Verständnis von Öffentlichkeit zugrunde, das zur Orientierung über das Ganze im Folgenden kurz erläutert werden soll: Unter Öffentlichkeit wird im vorliegenden Zusammenhang eine wahrnehmungs- und handlungsleitende Beschreibungskategorie verstanden, durch welche die kirchliche, konstruktiv-kritische Mitverantwortung und Mitgestaltung an den Belangen der Zivilgesellschaft nicht nur ihren konkreten »Sitz im Leben« erhält, sondern durch die das mögliche grundsätzliche Selbstverständnis von Theologie und Kirche als öffentlichen Orientierungskräften überhaupt begründet werden soll.

Dabei ist zuallererst an einen gleichsam säkularen Begriff von Öffentlichkeit anzuknüpfen: In diesem Sinn bezeichnet Öffentlichkeit nicht primär den Aspekt medialer Erregung von Aufmerksamkeit oder einfach den Marktplatz unterschiedlicher politischer Interessen. Vielmehr ist damit im Habermas’schen Sinn die gesellschaftliche Gestaltungssphäre bezeichnet, in der sich unterschiedliche Akteure und Institutionen mit ihren je eigenen Profilen und Handlungsabsichten mit der Zielsetzung engagieren, diese Sphäre durch die je eigene Wirklichkeitsdeutung diskursiv entscheidend mitzuprägen.

Öffentlichkeit in diesem Sinn meint folglich weniger eine eindeutige oder gar feststehende topographische Größe und lässt sich schon gar nicht auf den Bereich staatlich-institutionellen Handelns reduzieren, sondern bezieht sich in diesem säkularen Gebrauch auf den konkret immer wieder neu zu deutenden zivilgesellschaftlichen Gestaltungsraum des Öffentlichen, der seine Bedeutung und Profilierung erst durch diese Deutungs- und Handlungsaktivitäten selbst gewinnt. Dabei wird in jüngster Zeit im Zusammenhang zivilgesellschaftlicher Aufbrüche nochmals ganz neu nach den politischen und gesellschaftlichen Wirkmächten gefragt. Hier tritt neben die klassische Vorstellung repräsentativer Demokratie ein neues Politikmodell, in dessen Zusammenhang mit ganz neuen Kommunikations-, Partizipations- und Entscheidungsformen experimentiert wird. Öffentlichkeit fungiert hier also Signatur unterschiedlicher politischer Diskursorte und zugleich als Möglichkeitsraum alternativer gesellschaftlicher und politischer Gegenöffentlichkeiten.

|16| In dieser so verstandenen Sphäre zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit können nun eben auch durch die Kirche als einem Akteur unter vielen aktive Signale gegen die zunehmende Intransparenz und Anonymität bestehender elitärer Macht- und Entscheidungsstrukturen gesetzt werden. Der Überzeugung, dass Kirche aus guten Gründen in dieser Öffentlichkeit agiert und diese mitgestaltet, liegt die These zugrunde, dass bestimmte religiöse Traditionen und Gehalte aufgrund ihres zivilisierenden Grundpotentials zur Entwicklung und Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen und sogar eines demokratischen Bewusstseins beitragen können und sollten.21 Konkret wird etwa durch die Annahme und Anerkennung des je Anderen nach Maßgabe christlicher Nächstenliebe in einer spezifischen Weise zivilgesellschaftliche Mitverantwortung übernommen.22

Grundsätzlich ist zu bezweifeln, dass sich »Kirche« gleichsam als Größe außerhalb der weltlichen Verhältnisse positionieren oder sich womöglich in den vermeintlich sicheren inneren Raum der eigenen Sprach- und Handlungssphäre zurückziehen könnte. Alle Leitbilder, die von einer solchen Gegenüber-Sicht ausgehen, sind schon insofern defizitär, als sie suggerieren, dass Kirche und ihre Mitglieder in einer eigenen, weltabgewandten Sphäre existierten und womöglich mit einem ganz eigenen, qualitativ besonders hohen Relevanzanspruch auftreten könnten.

Der im vorliegenden Zusammenhang verwendete Öffentlichkeitsbegriff führt über die säkulare Fassung und ein zivilgesellschaftliches kirchlich-öffentliches Engagement nun aber noch einmal grundlegend hinaus, indem er hier als ein unabdingbares Merkmal der Bestimmung theologischer Reflexion in den Blick kommen und stark gemacht werden soll. Dabei wird grundsätzlich an D. Tracys soziologisch gefasste Leitidee angeknüpft, wonach Theologie selbst per se öffentlicher Diskurs ist und sich danach unterscheiden lässt, worauf der jeweilige Sinn und das theologische Artikulationsinteresse gerichtet sind – seien es nun Gesellschaft, Wissenschaft oder Kirche.23

Allerdings soll hier Tracys eher methodologisch-soziologische Unterscheidung in dezidiert theologischem Sinn ins Spiel gebracht werden. Anders gesagt: Es sind eben nicht etwa nur die berufsbiographischen Verortungen und Kontexte, die den Theologen zum jeweils unterschiedlich verorteten öffentlichen |17| Theologen machen, sondern es ist ganz entscheidend auch die damit jeweils verbundene theologische Prägung und Reflexion, die das Wesen und die Bedeutung einer öffentlichen Theologie am Ort des Individuums ausmachen. Dies kann dann auch über das Individuum hinaus auf die Frage der öffentlichen Kirche hin Verwendung finden: Kirchliches Engagement ist eben nicht nur soziologisch zu beschreiben, sondern lebt entscheidend von der permanenten theologischen Selbstorientierung, Selbstpositionierung und Selbstvergewisserung der verantwortlichen Akteurinnen und Akteure.

Die theologische Deutung und kirchlich verortete Mitwirkung an der Gestaltung von Öffentlichkeit stellen somit kein irgendwie geartetes zusätzliches Bestimmungsmerkmal theologischer Reflexion und kirchlicher Praxis dar, sondern eine sinnvolle und notwendige Querschnittsperspektive.

In der vorliegenden Studie wird die These vertreten, dass öffentliche Theologie und öffentliche Kirche einen wesentlichen Einfluss- und Gestaltungsraum nur dann für sich zu legitimieren vermögen, wenn sie sich einerseits so intensiv wie möglich auf die Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse einlassen, andererseits ihrem eigenen Selbstverständnis nach aber alle Artikulations- und Kommunikationsformen unbedingt an einer möglichst klaren und profilierten theologischen Grundlegung orientieren.

Auf dieser Basis wollen die im Folgenden angestellten Überlegungen über die Tagesaktualität hinaus zu einer kirchentheoretischen Profilierung des Verständnisses und der Praxis von Volkskirche als public church sowie der reflektierenden Praxis einer public theology inmitten der gesellschaftlichen, universitären und kirchlichen Öffentlichkeit beitragen.

Fatal wäre es übrigens, würde man die folgenden praktisch-theologischen Überlegungen etwa primär als Lösungsstrategie zu Rückgewinnung abgewanderter Mitglieder ansehen. Die hier skizzierte Profilierung ist unabhängig von der konkreten Mitgliedersituation und der aktuellen Frage der Kirchenreformen zu betrachten. Noch weniger ist eine solche Profilierung im Sinn einer funktionalistischen Marketing-Strategie zu verstehen.

Was sind aber nun die konkreten Herausforderungen, die es nahelegen, programmatisch und konzeptionell im Sinn einer kirchentheoretischen Querschnittsperspektive von einer öffentlichen Kirche im theologischen Sinn zu sprechen – und dies unter Berücksichtigung der gegenwärtigen empirischen Erkenntnisse über die sinkenden Zahlen sowie der nicht mehr nur wohlwollenden, sondern immer stärkeren beziehungs-, kenntnis- und interesselosen Distanzierung ihrer (einstmaligen) Mitglieder? Kurz gefragt: Gibt es überhaupt noch genügend volkskirchlichen Raum für einen solchen öffentlichen |18| Mitgestaltungsanspruch und was sind die eigentlichen Herausforderungen?

Wie stellen sich nun, um damit einzusetzen, jenseits der angedeuteten demographischen und finanziellen Entwicklungen die Herausforderungen für eine öffentlich präsente Volkskirche und für eine kirchentheoretische Profilierung dieses Leitbilds einer öffentlichen Kirche als intermediärer Institution dar?

|19| II. Öffentliche Herausforderungen

1. Ignorierungsstrategien

Blickt man auf die öffentlichen Diskurse etwa in brennenden Fragen des politischen Lebens, so scheint dabei die Kirche gegenwärtig tatsächlich keine wesentliche Rolle zu spielen. Ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten werden zwar, wenn sie sich zu bestimmten brisanten gesellschaftspolitischen Entwicklungen äußern, von den öffentlichen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Meinungsmachern wahrgenommen – insbesondere dann, wenn sich dies mit einer erhöhten medialen Aufmerksamkeit verbindet.

Gleichwohl scheinen ihre Haltungen in der Regel dann sogleich ignoriert zu werden, entweder weil bestimmte Aussagen als zu abstrakt, zu komplex und weltfremd erscheinen oder weil sie schlichtweg als politisch nicht opportun gelten. Kirche wird damit interessanterweise gerade auch dann öffentlich ignoriert, wenn sie durchaus verstanden wird und ihre Positionen als unbequem und widerständig eingeschätzt werden – jüngste politische Debatten in der Schweiz wie in Deutschland machen dies anschaulich. Dies gilt sowohl für die in der politischen Debatte weitgehend bedeutungslos gebliebene Stellungnahme des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes zur Minarettinitiative24 wie auch die unterschiedlichsten kirchenleitenden Äußerungen der EKD zu den Kriegseinsätzen der deutschen Bundeswehr, die zwar wahrgenommen, zugleich aber auch mit dem Vorwurf eines weltfremden Idealismus belegt wurden, wodurch man die bestehenden Klischees über kirchliche Äußerungen eifrig bediente.25

Solche Ignorierungsphänomene gelten nun aber auch, wie entsprechende Untersuchungen belegen, für die individuelle Lebensführung, für die kirchliche |20| Orientierungsmaßstäbe in Fragen öffentlicher ethischer Debatten, gelinde gesagt, kaum als relevante Größe angesehen werden, vor allem dann, wenn sie quer zu den eigenen politischen Einschätzungen liegen.26 Hartnäckig hält sich am Rand und außerhalb von Kirche das öffentliche Bild und die Meinung, dass sich die Kirchen vornehmlich durch traditionalistische und unzeitgemäße Wirklichkeitswahrnehmungen sowie durch ein moralistisches Anweisungsarsenal auszeichneten, dem für die Realitäten des Lebens nur geringe Orientierungsfunktion beizumessen sei.27

2. Kirchliche Selbstinfragestellungen

Man mag zwar manches an der Kritik einer Selbstsäkularisierung von Kirche für überzeichnet halten, gleichwohl sind Vorwürfe hinsichtlich einer öffentlichen Selbstinfragestellung von Kirche nicht von der Hand zu weisen. Dies zeigt sich etwa darin, dass kirchliche Äußerungen im öffentlichen Raum oftmals zu schnell an die vermeintlich medial eingängigeren Sprachwelten und Bilder angeglichen werden, aber auch in unverkennbaren Vereinfachungen der eigenen Botschaft bis hin zum immer wieder feststellbaren wenig klaren öffentlichen Auftreten des kirchlichen Personals – so als ob man, gleichsam prophylaktisch, auch nur den Anschein theologischer Sperrigkeit oder gar vermeintlich unlauterer Missionierungsabsichten vermeiden wollte.28

Auch der manchmal nur allzu geringe Mut, angesichts der komplexen Wirklichkeitslagen den Gegenwartsbezug der eigenen Traditionen gerade deshalb tatsächlich in angemessen komplexer Weise herauszustellen, gibt hier zu denken und befördert letztlich möglicherweise sogar die öffentliche |21| Meinung über eine prinzipielle Gegenwartsirrelevanz von Kirche. Möglicherweise liefert das kirchliche Personal dazu immer wieder auch neue Bestätigungen einer gewissen Weltabständigkeit, die aber auch durch manch eigene nicht unbedingt hoffnungsvoll wirkende Artikulationsweise mitbefördert wird. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang auch, wenn sich dies mit einem mehr oder weniger deutlichen Antiinstitutionalismus im Blick auf die Kirche als ganze und ihre RepräsentantInnen verbindet, womöglich gar unter Herbeiziehung des Vorwurfs organisatorisch-bürokratischer Weltferne.29

Dafür mag nun stehen, dass selbst Luther den entscheidenden Wert nicht auf die institutionelle – und schon gar nicht auf die organisatorische – Gestalt von Kirche legte, sondern deren Bedeutung für die Verkündigung des Evangeliums in den Mittelpunkt stellte. Nach reformatorischem Grundverständnis besteht ein erheblicher Freiraum in der institutionellen Gestaltung von Kirche, »wenn die Grundfunktionen der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung als hinreichend angesehen werden, um wahre Kirche zu sein«30. Aber gerade deshalb kann diese hochproduktive reformatorische Grundspannung nicht einfach zuungunsten der institutionell verankerten Vollzüge aufgegeben oder aufgehoben werden.